Mehr als jeder vierte Heranwachsende in Deutschland erhielt im Jahr 2017 eine Diagnose aus dem Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“. Die Psyche der Kinder und Jugendlichen findet Beachtung. Das ist gut, aber die Behandlung vieler Jugendlicher läuft völlig falsch.
Mehr als jeder vierte Heranwachsende in Deutschland erhielt im Jahr 2017 mindestens eine F-Diagnose aus dem ICD-10. Das sind also über 3,2 Millionen betroffene Familien. Denn nicht nur das Kind bzw. der Jugendliche leidet, in aller Regel ist das ganze Umfeld involviert. Laut Deutschem Ärzteblatt ist dabei die Diagnoseprävalenz im ambulanten Bereich seit 2009 um 21 Prozent gestiegen.
Das ist ja im Grunde eine gute Nachricht. Imnerhin spricht es dafür, dass sich immer mehr Ärzte und Psychotherapeuten überhaupt damit auseinander setzen, wie es um die psychische Situation und damit die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen bestellt ist. Somit führen sie eventuelle Verhaltensauffälligkeiten nicht allein auf Entwicklungsnormalitäten und Varianten der Pubertät zurück.
Ermöglichen wir eine artgerechte Haltung?
Allerdings finde ich es dennoch auch alarmierend, dass sich unsere Gesellschaft so entwickelt, dass affektive Störungen im Sinne von Angst und Depressionen und Posttraumatischer Belastungsstörungen in einem solchen Ausmaß auftreten. Aus subjektiv Perspektive fragt man sich schon, ob wir eine „artgerechte Haltung“ ermöglichen, die das Entwicklungspotenzial unser Kinder fördert oder aber nur dazu beitragen, dass nachfolgende Psychiater- und Psychologen-Generationen gar nicht mehr wissen, wie sie mit dem Ansturm fertig werden sollen.
Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) seien im Zeitraum von 2009 bis 2016 nicht häufiger als vorher diagnostiziert worden. Das ist allerdings ein schlechtes Zeichen. Zumal immer noch dreimal häufiger bei Jungen als bei Mädchen an die Diagnose gedacht wird. Hier würde ich davon ausgehen, dass die Dunkelziffer extrem hoch ist und viele Psychiater und Psychologen von einem Zerrbild einer Diagnose ausgehen, die noch zu Zeiten des Struwwelpeters stimmt, aber nicht die eigentliche Symptomatik einer Entwicklungsverzögerung der Selbstbeherrschung und Selbstregulation, Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche und der affektiven Regulation einschließen.
ADHS: Immer noch zu selten in Betracht gezogen
Neuere Studien belegen, dass demzufolge über 50 Prozent der Patienten in den Psychiatrien eine nicht erkannte ADHS-Problematik aufweisen. Hier stimmt etwas nicht. Und zwar in dem Sinne, dass viel zu selten an das Vorliegen einer ADHS-Konstitution gedacht wird, solange die Kinder und Jugendlichen nicht schon völlig aus dem Ruder gelaufen sind. Und selbst dann finden sie und ihre Familien zunächst monatelang keine adäquate Therapie oder Verständnis.
Und hier liegt dann das eigentliche Problem: Wie die zermürbenden Kämpfe um die neuen ADHS-Leitlinien zeigen, weigern sich immer noch zahlreiche therapeutisch relevante Berufsgruppen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie die aktuellen Erkenntnissen zur Genese und Symptomatik von ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen anzuerkennen. Sie halten fest an überholten Konzepten, die letztlich ihre tiefenpsychologischen und analytischen Kassensitze retten, die aber Patienten und ihre Familien ins Unglück treiben. Das mag jetzt hart ausgedrückt sein, spiegelt aber die therapeutische Realität wider.
Nicht immer haben die Eltern etwas verbockt
Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass selbst die sonst wirksame Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen keinen Mehrwert zu einer alleinigen Medikation (mit Stimulanzien) bringt. Von der sinnfreien, aber zeitfressenden analytischen Spieltherapie wollen wir erst gar nicht reden. Dennoch fordern einzelne Verbände immer noch, dass zunächst Psychotherapie erfolgen muss, bevor eine wirksame Hilfe zur Verfügung gestellt wird.
Wir benötigen eine Beratung und Begleitung der Familien mit Entwicklungs- und Verhaltensstörungen bzw. affektiven Störungen, die sich mit den neurobiologischen Erkenntnissen der letzten Jahre beschäftigen und nicht monokausal darauf setzen, dass die Eltern sicherlich irgendwas verbockt haben, was dann eine systemische Familientherapie oder Verhaltenstherapie wieder gerade rücken kann. Hier ist der Größenwahn der Psychotherapeuten und Psychiater gesellschaftlich schädigend, weil uns gerade die Heranwachsenden auf der Strecke bleiben, die mit Kreativität und Einsatzbereitschaft in unserer Gesellschaft so dringend benötigt würden.
Die Betroffenen fragen
Neurodiversität bedeutet heute, dass wir uns damit auseinander setzen, welche Entwicklungspotenziale und Entwicklungsbedingungen jeder einzelne Jugendliche hat und benötigt. Aus der Sicht der Betroffenen, nicht aus der dogmatischen Überzeugung von Fachverbänden mit Konzepten aus der Steinzeit.
In dem Sinne ist eine Neuentwicklung von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie überfällig. Zumindest im Bereich ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen sehe ich weit und breit aber nichts von den geforderten Vernetzungen oder Kooperationen, die im Sinne der Familien wären. Es ist eine Schande, wie bisher vorgegangen wurde und erschütternd, dass erwachsene Therapeuten so wenig über eigene Standesdünkel hinwegsehen können.
Wie wollen wir uns entwickeln?
Mein Arbeitsplatz in der Erwachsenenpsychiatrie und Psychosomatik wird auf diese Art und Weise auf Jahre gesichert bleiben. Und das Leben von einem Viertel aller Jugendlichen in Deutschland von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein. Eine Schande, die aber eben unbeachtet bleibt.
Hier müsste die Gesellschaft und vor allem auch die Gesundheitspolitik aufwachen und aktiv werden. Denn hier entscheidet sich, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln wird. Aber vermutlich passiert wieder nichts. Denn auf den Symposien treffen sich zwar genau die Leute, die jene Kooperations- und Vernetzungsansätze laut fordern, sie aber dann nicht praktizieren.