Ist 60 das neue 50? Das wünschen sich Männer im besten Alter. Bei Kampagnen wie „Drive for Five“ erklären Pharmaunternehmen so manches Wehwehchen mit sinkenden Testosteronspiegeln, Blutdruck, Lipiden und PSA-Werten. FDA-Experten laufen dagegen Sturm.
Wenn Männer in die Jahre kommen, führt ihre nachlassende Hodenfunktion mitunter zu niedrigen Testosteronwerten. Senioren bewerten das Hormon schon länger als vermeintliches Zaubermolekül gegen unterschiedliche Beschwerden. Sie erhoffen sich mehr Vitalität, eine Libido wie in jungen Jahren, bessere Erektionen und Muskeln wie zu früheren Zeiten. Testosteron soll auch gegen Stimmungsschwankungen helfen. Hersteller befeuern diese Sichtweise, indem sie niedrige Hormonspiegel mit diversen Krankheiten in Verbindung bringen – eine veritable Marketingstrategie.
Als Hersteller des Testosterongels AndroGel® hat AbbVie die Gunst der Stunde erkannt und einen „Low T-Test“ entwickelt. Der Konzern spekuliert, allein in den USA hätten 14 Millionen Männer mit Hypogonadismus zu kämpfen, aber nur jeder zehnte Betroffene würde tatsächlich behandelt. Mehrere Kampagnen starteten, unter anderem „Is It Low T“. AbbVie stellte Zusammenhänge zwischen niedrigen Testosteronspiegeln und diversen Wehwehchen her. Bei „Drive for Five“ hob der pharmazeutische Hersteller niedrige Testosteronwerte mit Blutdruck, Lipiden, Blutglukose und PSA-Werten medizinisch auf eine Ebene. „Symptom-Checklisten“ kamen noch hinzu. Doch der Schuss ging nach hinten los. Bis Mitte 2015 gab es 3.481 Klagen gegen mehrere Hersteller von Testosteron-Präparaten. Timothy Wilkes und Pamela Wilkes werfen AbbVie vor, der Konzern habe AndroGel® als „sichere und wirksame Behandlung gegen Hypogonadismus“ vermarktet, obwohl es zu lebensbedrohlichen kardialen Ereignissen kommen könne. Als Beleg führen sie unter anderem eine bereits 2010 veröffentlichte Studie im „NEJM“ an. Beide Kläger sprechen in diesem Zusammenhang von „Panikmache mit Krankheiten“, um Gewinne mit Testosteron-Produkten zu maximieren. Mittlerweile sind viele Online-Angebote aus dem Web verschwunden. Alle hier genannten Links zu früheren Angeboten lassen sich über Web-Archive, auf die Anbieter keinen Einfluss haben, nach wie vor abrufen. Jenseits vollmundiger Versprechen interessieren sich Patienten vor allem für zwei Fragen: Welche Effekte haben Testosteron-Präparate tatsächlich auf den Körper? Und wie riskant ist die Pharmakotherapie wirklich?
Bislang stand vor allem fest, dass das Hormon zu mehr Muskeln und weniger Fett im Körper führt. Ob Testosteron wünschenswerte Effekte auf den Körper im Allgemeinen und die sexuelle Leistungsfähigkeit im Speziellen hat, ließ sich kaum sagen. Jetzt hat Peter J. Snyder, Philadelphia, neue Daten veröffentlicht. Die Studie wurde unter anderem von AbbVie finanziert. Snyder rekrutierte 790 Männer im Alter ab 65 Jahre. Alle Probanden hatten im Serum Testosteronspiegel unter 275mg/dl. Sie verwendeten ein Gel, das randomisiert Testosteron enthielt oder frei vom Wirkstoff war. Unter Verum verbesserten sich die sexuelle Aktivität und die Erregungsstärke etwas, gemessen am Psychosexual Daily Questionnaire. Verglichen mit Phosphodiesterase-5-Hemmern sei der Effekt jedoch gering, schreibt Snyder. Auch bei körperlichen Funktionalitäten gab es kaum einen Mehrwert. Verbesserungen im FACIT-Fatigue-Score erwiesen sich als reiner Placebo-Effekt. Wissenschaftler fanden jedoch Hinweise, dass die Stimmungslage ihrer Probanden etwas nach oben ging. Über Risiken können die Autoren derzeit nichts sagen – Snyder hatte rund 98,5 Prozent aller Teilnehmer wegen kardiovaskulärer Risiken, Prostataerkrankungen oder sonstiger Leiden gleich zu Beginn ausgeschlossen. Zu Herz-Kreislauf-Ereignissen kam es – oh Wunder – nicht.
Mittlerweile befasst sich auch die US-amerikanische Food and Drug Association (FDA) mit möglichen Gefährdungen. Experten kritisieren, Ärzte würden zu oft, aber auch zu kritiklos Testosteron-Präparate verordnen. In ihrer Stellungnahme verweisen sie auf eine repräsentative Umfrage. Demnach habe sich die Zahl der Anwender von 1,3 Millionen in 2009 auf 2,3 Millionen in 2013 beinahe verdoppelt. Bei jedem fünften Patienten stellten Ärzte Hypogonadismus als Verdachtsdiagnose, ohne leitliniengerecht Blutwerte zu bestimmen. Sie nehmen gesundheitliche Folgen billigend in Kauf. Auf Anfrage erwähnt die FDA mehrere Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen. Rebecca Vigen, Dallas, berichtet vom signifikanten Anstieg kardiovaskulärer Ereignisse durch Testosteron-Therapien. Und William D. Finkle, Los Angeles, warnt vor nicht tödlichen Herzinfarkten. Allerdings hatten Veteranen, die Testosteron erhielten, ein geringeres Mortalitätsrisiko, gibt Molly M. Shores aus Seattle zu bedenken. Zwei Metaanalysen von Lin Xu, Hong Kong, beziehungsweise von Giovanni Corona, Bologna [Paywall], kommen zu unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich kardiovaskulärer Risiken. Vertreter amerikanischer Zulassungsbehörden fordern von Herstellern deshalb, auf die unklare Studienlage hinzuweisen. Ärzte sollten ihrerseits Testosteron nur bei klaren Indikationen verordnen, heißt es weiter.