Kanadische Wissenschaftler der Provinz Alberta untersuchten retrospektiv bei knapp 2,6 Millionen Patientinnen und Patienten, welche der unterschiedlichen ärztlichen Fachgruppen Kranke mit den komplexesten Fällen hatten? Rangliste:1.Nephrologen,2.Infektiologen,3.Neurologen,4.Pneumologen,5.Hämatologen,6.Rheumatologen,7.Gastroenterologen,8.Kardiologen,9.Internisten...13.Hausärzte als Schlusslicht.
Die Komplexität eines Patienten-Falls hängt von persönlichen, bio-psycho-sozial-ökonomischen und klinischen Faktoren ab. Der Grad der Komplexität einer Patientengeschichte wirkt sich entscheidend darauf aus, wie viel Zeit und Ressourcen eine umfassende und kausale diagnostische und therapeutische Strategie beansprucht.
Die logistischen Planungen im Gesundheits- und Krankheitswesen reflektieren bei Versorgungsforschung und Honorierung diese erstmals systematisch beschriebenen Komplexitätsprobleme viel zu geringschätzig, so die kanadischen Mediziner.
"Comparison of the Complexity of Patients Seen by Different Medical Subspecialists in a Universal Health Care System" von Marcello Tonelli et al. https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2716991 ist eine gezielte retrospektive Analyse von knapp 2,6 Millionen Patientinnen und Patienten (Altersmedian 46 Jahre) im Zeitraum vom 1.4.2014 bis 31.3.2015, die ausschließlich die kanadische Provinz ALBERTA/CAN betrifft.
Von einem "Universal Health Care System" kann übrigens nicht die Rede sein. Medikamentenkosten müssen ab bestimmten Jahreseinkünften und fehlender Bedürftigkeit selbst bezahlt werden; weitere Zuzahlungen sind erheblich. https://www.alberta.ca/drug-coverage-health-benefits.aspx
Dafür ist in Kanada ein Primärarzt-System mit Erstkontakt beim Hausarzt verbindlich. http://www.health.alberta.ca/services/primary-health-care.html
Schon bei der Einführung in das Thema wird klar: Zunehmendes Alter, Komorbidität, soziale Faktoren, Behandlungs-Charakteristika und Kontext-Faktoren beeinflussen die Patienten-Komplexität im bio-psycho-sozial-ökonomischen Kontext seiner Erfahrungen und verkomplizieren die Patientenversorgung ["Introduction - Patient complexity can be defined as an interaction between the “personal, social, and clinical aspects of the patient’s experience” that complicates patient care. For example, increasing age and comorbidity, social factors (eg, poverty and lower level of education), treatment characteristics (eg, number of medications), and contextual factors (eg, residence in long-term care) all influence perceived patient complexity—and the prevalence of complexity appears to be increasing in health systems worldwide. There is general agreement that patient complexity increases the time and resources required to provide optimal care"].
Wenn aber Patienten beim Nephrologen die höchste Zahl an Komorbiditäten (4,2) und die meisten Medikamente (14,2) hatten, zugleich aber ihre Sterberate in Langzeitbetreuung am höchsten (6,6 %) war, wirft das ein eher ungünstiges Licht auf diese Profession.
Die Studie ist ungewöhnlich facharztlastig. Sie übersieht die koordinierende Steuerungs- und Lotsenfunktion der haus- und familienärztlichen Professionen mit deren weiter entwickelten Übersicht über alle medizinischen Subspezialitäten.
Dieser jetzt 56-jährige, vorzeitig berentete, multimorbide Patient steht seit 1996 in meiner regelmäßigen und intensiven hausärztlichen Betreuung. Entscheidend für sein Überleben war die enge Anbindung an eine befreundete endokrinologische Praxis, aber auch die rechtzeitigen koordinierend-allgemeinärztlichen Interventionen: Im Rahmen einer exazerbierten endokrinen Orbitopathie mit malignem Glaukom drohte mein Dortmunder Patient zu erblinden. Ich kannte Frau Professor Dr. Anja Eckstein und Frau Prof. Dr. Dagmar Führer Augenklinik/Endokrinologie, beide Uniklinik Essen, von einer Fortbildung: In der UK-Essen wurde dann die entscheidende Orbita-Dekompressions-OP vorgenommen und konnte dem Patienten sein Augenlicht retten.
Von daher sind die gewagten Schlussfolgerungen dieser Publikation mit Vorsicht zu genießen.