Den Warteraum in der Notaufnahme will man für gewöhnlich so schnell wie möglich wieder verlassen. Nur einer wartet geduldig: Ein Obdachloser. Und so beginnt eine weihnachtliche Geschichte über ihn, mich und den Grinch.
Kalt war es in dieser Nacht. Im Warteraum der Notaufnahme saß der Obdachlose und blätterte in einer Zeitschrift. Wartezeit? Das machte ihm nichts aus. Seinetwegen könnten wir jedermann jederzeit vor ihm drannehmen. Da wäre er großzügig. Und so schlimm wäre es schließlich auch nicht. Nur mal eben drüber schauen über seine alte Wunde. Keine große Sache und eben nicht wirklich eilig. Er wüsste auch, dass es kein eigentlicher Fall für die Notaufnahme wäre – aber einen Hausarzt hätte er nicht. Er wäre ja immer unterwegs.
Wenn es draußen kalt ist, ist der Platz in irgendeinem Warteraum nicht der schlechteste. Hier ist es warm und trocken. Um die Ecke steht ein Automat mit Heißgetränken. Vielleicht plaudert auch jemand nett mit einem.
Natürlich gibt es Übernachtungsmöglichkeiten in der Stadt – wie in jeder Stadt. Aber die wenigsten Obdachlosen möchten diese Räumlichkeiten aus den unterschiedlichsten Gründen nutzen. Man ist nicht gerne unter seinesgleichen. Dafür hat man ja in der Regel das Leben auf der Straße gewählt. Damit man nicht mit anderen so nah und eng zusammen kommt. Von all den Aggressionen und Diebstählen, die – so erzählen sie – dort üblich sind – einmal ganz abgesehen. Die wenigsten möchte so deutlich ihr eigenes Spiegebild vor Augen sehen und riechen. Armut und Leid riechen überall gleich.
„Eigentlich“ ist ein Dreckswort
Und so saß er also geduldig in dieser kalten Nacht durchaus frohgemut im Warteraum.
Doch irgendwann kam auch er dran. Keine große Sache – hatte er ja selbst gesagt. Ein hübscher Verband, ein Arztbrief, ein paar Schmerztabletten „für wo am Nötigsten“ mit auf den Weg. Und nun?
Ob er noch ein bisschen im Warteraum sitzen dürfe?
„Eigentlich“, hob meine Kollegin an, „eigentlich nicht. Und überhaupt: Wenn da jeder kommen würde.“
„Eigentlich ist ein Dreckswort!“, entfuhr es mir.
Eigentlich geht mir voll auf den Keks. Ein Füllwort. Ein Wort, das theoretisch schon einen Weg aufweisen könnte, wenn man denn „eigentlich“ wollte, was aber durch das „eigentlich“ auch schon aufgehoben ist. Entweder es geht oder nicht. Punkt. Entweder ich will – oder nicht.
„Wer will, findet Weg. Wer nicht will, findet Ausreden“, höre ich dann immer meinen Vater im Ohr.
„Eigentlich ist es kalt draußen. Eigentlich ist der Weg zur nächsten Herberge weit. Eigentlich „stört“ er im Warteraum möglicherweise zukünftige Patienten. Und eigentlich ist mir heute sehr barmherzig ums Herz. Kommen Sie mit!“
(Manchmal rockt es, eine Art von Autorität zu sein.)
Ich führte ihn in eine Wartegruppe hinter der Notaufnahme. Fern von Blicken Vorbeikommender. Ich nahm fünf Decken mit.
„Hier. Einmal nur! Und nur heute Nacht! Um fünf Uhr – bevor der Reinigungsdienst kommt- sind sie verschwunden! Klar soweit?
„Klar soweit.“
Er küsste meine Hand.
Dieses Strahlen in den Augen
Jede Nacht das gleiche Spielchen: Ordnung schaffen überall und allenthalben. Notaufnahme, Sozialräume. Auffüllen, sortieren, umpacken, mit einem feuchten Läppchen mal überwischeln, klar Schiff machen.
Im Aufenthaltsraum standen die Essenreste der Ärzte herum. Halb und ganz aufgegessenes Chinafood für den hungrigen Arztmagen. Warum die Reste selten bis nie aufgeräumt werden, weiß kein Mensch. Vielleicht haben sie auch einen Papa im Ohr der sagt: „Man schmeißt keine Lebensmittel weg. Das kann man morgen gut noch mal aufwärmen.“
Wer es dann aufräumt oder wegschmeißt, sind wir. Curry morgens um drei Uhr riecht sehr streng in der Nase. Und die Erfahrung zeigte Nacht für Nacht: Ist der Breitschaftsarzt weg, ist er weg. Der kommt nicht mehr, weil ihm sein Essen direkt noch einmal eingefallen ist, um es
a) mit nach Hause zu nehmen
b) aufzuessen
c) aufzuräumen.
Eines stand noch unangetastet da.
Ich zählte durch. Der war und ist da, und die auch und der ebenfalls. Alle satt. Alle schon auf dem Weg ins Bett. „Gehört einem von euch das Essen? „Nö!“
Hey – ein Essen übrig.
„Wer jetzt kein Essen mehr hat , wird auch keines mehr essen. Wer jetzt noch hungrig ist, wird es lange bleiben!“, zitierte ich Hermann Hesse.
Moment mal. Da war doch dieser Obdachlose in der hintersten Ecke! Ich holte Messer und Gabel, stellte es kurz zwecks der Wärme in die Mikrowelle und brachte es ihm.
Wie gesagt: An manchen Tagen trägst du die Barmherzigkeit in dir, wie Florence Nightingale ihre Lampe durch die Reihen verwundeter Soldaten.
Dieses Strahlen in den Augen! Diese Dankbarkeit, die sich in Form eines weiteren Handkusses zeigte. Dieses „Oh mein Gott. Ich hatte heute noch nichts vernünftiges gegessen!“
Dieses am „richtigen Ort zur rechten Zeit“ zu sein.
Es war ein heiliger Moment.
Bis zu dem Augenblick, als mir einfiel, dass ich einen Arzt in meiner gedanklichen Aufzählung vergessen hatte.
F***!
„So geht das nicht! Das wird Konsequenzen haben!“
Ihn hatte ich nicht angerufen. Ihn hatte ich nicht gefragt.
Und weil ich ein ehrlicher (und treudoofer) Mensch bin, rief ich ihn an.*
Es war sein Essen.
Ach du liebe Zeit.
War das zu glauben? Da wollte der Arzt sich nachts um halb zwei endlich was zu Essen gönnen und dann hatte es die blöde Schwester einfach verschenkt!??? Verschenkt? Sein Essen? Einfach so? Schließlich hatte er den ganzen Tag gearbeitet! Er hatte es sich redlich verdient. Mit seiner Arztkunst und seinem hart erarbeiteten Geld! Und jetzt war es weg? Gott, wie blöd konnte man nur sein!
„Ich komm sofort!“, brüllte er in den schon auf einen Meter Abstand gehaltenen Telefonhörer. „So geht das nicht! Das wird Konsequenzen haben!“ und knallte den Hörer auf. Es hörte sich an, als würde er eben noch sein Schwert in die Scheide stecken oder Zündhölzer für meinen bevorstehenden Scheiterhaufen zusammensuchen.
Grund Gütiger. Das konnte ja heiter werden.
Er kam. Es wurde unschön.
300 Entschuldigungen verfehlten sein Gehör knapp. Die Idee, mein Pausenbrot ihm abzugeben um dann ihm noch mal ein Essen zu bestellen, drangen nicht durch. Im Gegenteil: Er hätte ja nun wirklich das Gefühl, ich würde ihn verarschen! Ihn! Das ging zu weit! Konsequenzen! Tod und Verderben! Diebstahl seines Eigentums! Arbeitsrechtliche Schritte! Nieder mit der blöden Pflegekraft!
Oh je.
Ich sah die Augen des Obdachlosen vor mir und entschuldigte mich das 301. Mal, aber da stürmte er türenschlagend von dannen. Und ja, ich konnte auch ihn verstehen.
Obdachlosenbeglückerin versus hungriger Magen
Den Rest der Nacht war ich etwas unruhig. Drohten mir tatsächlich arbeitsrechtliche Konsequenzen, weil ich sein (nicht beschriftetes) Eigentum verschenkt hatte? Würde mir morgen gekündigt werden – fristlos wie der Putzfrau, die ein vergessenes Brötchen des abgefutterten Buffets gegessen hatte? Und gab es nicht auch für den Arzt eine gewisse Ethik, nach der er dem Obdachlosen durchaus hätte eine warme Mahlzeit gönnen können?
Um fünf schaute ich nach dem Odachlosen, der gerade dabei war, seine fünf Decken sorgfältig zusammenzulegen.
„Danke! Für alles. Das werde ich nie vergessen.“
Noch bevor ich an jenem Morgen leicht sorgenvoll ins Bett stieg, rief ich meinen Vorgesetzten an. Bevor er die Geschichte des Arztes hörte, sollte er zuvor noch meiner Version lauschen. Melden macht frei. Er versprach, die möglichen Wogen zu glätten und lachte trotzdem ganz leise und heimlich über diese Geschichte. Obdachlosenbeglückerin versus hungriger Magen.
Das Ende vom Lied war, dass ich mich offiziell entschuldigen musste – vor dem Arzt und dem Vorgesetzten. Fehlt nur noch vor Gott und der Welt. Der Arzt hatte Bedenken wegen meiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit der Entschuldigung geäußert. Da bedurf es eines Zeugen.
Gemeinsam wollten sie sich also die Entschuldigung anhören und überprüfen. Ich buk einen Kuchen dazu. Denn liebe Freunde: Großzügigkeit kann ich. Und mich auch aufrichtig und ernsthaft entschuldigen. Letztlich sagt es weniger über meine „Schandtat“ aus, denn über ihn.
Die Entschuldigung war „angemessen“ und jetzt Schwamm drüber. Der Arzt und ich gingen uns fortan aus dem Weg. Ich spüre die Blicke und Küsse des Obdachlosen immer noch auf meiner Hand. Das ist es, was zählt.
*Es wäre übrigens leichter gewesen, die Unschuld vom Land zu spielen. „Was? Das Essen ist weg? Ach. Das ist ja blöd! Wie traurig für dich. Also sowas. Ich hab nix gesehen!“