Am liebsten würde ich Mona schütteln. Oder einmal auf den Kopf stellen. Damit alles wieder zurechtrückt in ihrem Kopf.
Diesen Impuls haben vermutlich auch ihre Eltern, Lehrer, Freunde. Aber natürlich: so einfach ist es leider nicht. 15-20%. Das ist die Letalität von Anorexie nervosa. Was bedeutet, dass fast jede fünfte Patientin (oder Patient, aber meist sind es Mädchen, die an der Erkrankung leiden), an ihr sterben wird. Damit ist diese Diagnose tödlicher als viele Krebsdiagnosen bei Kindern. Und doch erscheint sie im ersten Moment harmloser.
Denn das Kind muss ja einfach nur wieder anfangen zu essen.
In Monas Gesicht steigt bei dem Gedanken daran allerdings sofort die Panik auf. Gerade hat sie mir und meiner Kollegin etwas kleinlaut gestanden, dass sie sich mit ihren 42kg bei 1,62m Körpergröße immer noch zu dick fühlt. Objektiv ist das unvorstellbar, aber die vollkommen verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers, fachsprachlich Körperschemastörung, ist eins der Diagnosekriterien für die Erkranung des Mädchens. Typisch für die Krankheit, die im Kopf beginnt.
Unsere Station ist nur für das Somatische, das Körperliche, zuständig. Bevor die eigentliche Therapie beginnt, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie fortgesetzt wird, muss Mona zunehmen. Denn gerade hat ihr Körper so wenig Energie, dass er einige Gänge runtergeschaltet hat. Ihre Tage hat Mona schon seit einigen Monaten nicht mehr bekommen. Außerdem schlägt ihr Herz nachts teilweise nur noch 33 Mal pro Minute, tagsüber vielleicht auch mal 50 Mal. Das reicht trotzdem nicht, in den letzten Wochen ist sie mehrfach kollabiert. Ihr Körper funktioniert auf Sparflamme.
Die Regeln sind streng.
Anorexie-Patientinnen sind typischerweise zwischen 12 und 16 Jahre alt, wenn sie erkranken. Meist handelt es sich um äußerst disziplinierte Mädchen, die viel Sport treiben, gut in der Schule sind und sich angepasst verhalten. Die uns Ärzten gegenüber nett und freundlich sind, lächeln und ja sagen zur Therapie; zu denen man aber schwer einen wirklichen Zugang findet und die ganz genau wissen, wie sie Essen doch noch verschwinden lassen können... Daher gibt es auf der Station strenge Regeln: Nur eine Stunde Handy pro Tag, kein Internet, 7h Besuch die Woche. Nicht selten kommen die Mädchen aus Familien, in denen irgendetwas gründlich schief läuft. Daher tut ihnen der Abstand zum Teil sogar gut.
Mona tut mir trotzdem leid. Sie liest viel und leidet darunter, dass sie bei dem schönen Herbstwetter das Bett hüten muss. Sie versteht, dass das notwendig ist und auch, dass das, was sie ihrem Körper antut, nicht gesund für ihn ist. Aber trotzdem - die Sache mit dem Essen, das ist für sie dennoch unglaublich schwierig. Monas Mutter sorgt sich um ihre Tochter. Ist in den ersten Tagen aber vor allem erleichtert darüber, dass endlich etwas passiert.
In den letzten Wochen hat sie ihre Tochter dahinschmelzen sehen - die sportliche Handballerin nahm innerhalb eines knappen halben Jahres 16kilo ab. Streit zu Hause war an der Tagesordnung, aber die Eltern wissen schon lange nicht mehr, was sie tun können, um ihre Tochter zum Essen zu bewegen. Der Hausarzt, dem die besorgte Mutter ihre Tochter vorstellte, sah vorerst keinen Handlungsbedarf. Ihre Tochter habe doch eine schöne Figur, habe er gesagt. Verständnis- und fassungslos schüttelt die Mutter auch heute noch den Kopf über diese Reaktion. Und ist froh, sich nun in den richtigen Händen zu fühlen.
Ich verstehe ihre Ohnmacht und Wut auf unseren Kollegen. Und frage mich im zweiten Schritt, ob wir als Ärzte gut genug vorbereitet sind auf psychiatrische Erkrankungen. Denn mein Kurs an der Uni war zwar sehr gut, aber auch ziemlich kurz. Wie rede ich später mit einer Mutter, die mit diesem Thema auf mich zukommt? Oder einem Patienten, der nebenbei von Depressionen, Panikattacken oder sozialer Phobie berichtet? Welche Botschaft ist in den wenigen Minuten, die man im Alltag für einen Patienten hat, wichtig und richtig, bevor man ihn in die Hände eines Spezialisten überweist? Ich weiß es nicht.
Schwierig irgendwie. Wenn dieser Knoten im Kopf ist.
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