Mit 'Legacy Prescribing' werden Medikations-'Altlasten' beschrieben: Dauermedikationen mit Polypharmazie, die sich über lange Zeiträume in der haus- und fachärztlichen Praxis bzw. bei Klinikaufenthalten fest etabliert haben und nicht mehr kritisch hinterfragt werden. 'Legacy customers' sind auch Stammkunden, die z.B. auf Dauer Antihypertensiva, Cholesterinsenker und/oder Antidiabetika benötigen.
“Legacy Drug-Prescribing Patterns in Primary Care” von Dee Mangin et al. aus Kanada/New Zeeland
http://www.annfammed.org/content/16/6/515.full lautet der Titel der Studie, die sich wohl vorwiegend gegen eingefahrene Verordnungsgewohnheiten von Hausärzten richten soll:
Dazu hat man Daten von mehr als 50.000 erwachsenen Primärarztpatienten aus den Jahren 2010 bis 2016 verwendet. Die Studienergebnisse können zusammengefasst folgendermaßen formuliert werden:
Von Medikations-Altlast-Verordnung gingen die Studienautoren aus, wenn ausgerechnet ein Antidepressivum oder ein Protonenpumpeninhibitor (PPI) ohne Unterbrechung länger als 15 Monate oder ein Bisphosphonat mehr als 5,5 Jahre lang verschrieben wurde.
Medikations-Altlasten hätten bei 46 Prozent (3766 von 8119) der Patienten mit Antidepressiva, 45 Prozent (2885 von 6414) mit PPI und 14 Prozent (228 von 1592) mit Bisphosphonaten vorgelegen. Die mittlere Verordnungsdauer in den drei Gruppen betrug 4,8 / 4,9 / 6,7 Jahre. Auch bei Abschluss der Untersuchung liefen die Verordnungen mehrheitlich noch weiter.
„PURPOSE - Polypharmacy is a key clinical challenge for primary care. Drugs that should be prescribed for an intermediate term (longer than 3 months, but not indefinitely) that are not appropriately discontinued could contribute to polypharmacy. We named this type of prescribing legacy prescribing. Commonly prescribed drugs with legacy prescribing potential include antidepressants, bisphosphonates, and proton pump inhibitors (PPIs). We evaluated the proportion of legacy prescribing within these drug classes” … “We calculated rates of legacy prescribing of antidepressants (prescription longer than 15 months), bisphosphonates (longer than 5.5 years), and PPIs (longer than 15 months) …”
Doch ein als „Legacy Prescribing“ bezeichnetes, möglicherweise fehlerhaftes Verordnungsverhalten ("Altlastrezepte") bei einem Antidepressivum ohne Unterbrechung über einen Zeitraum länger als 15 Monate annehmen zu wollen, entbehrt jeder formal und inhaltlich begründeten Grundlage.
Im Gegenteil: So lange Studien mit anti-depressiv wirksamen Psychopharmaka i.d.R. o h n e harte Endpunkt-Daten mit Angaben zu morbiditäts-bezogener Mortalität einschl. Suizide, allgemeiner Mortalität, (Ko-)Morbiditäten, Risiken, Nebenwirkungen, Kollateralschäden, Effizienz, Effektivität, "number-needed-to-treat" (NNT), "number-needed-to-harm" (NNH) und Teilnahme-Ausfällen ("drop-outs") durchgeführt werden, ist und bleibt ein willkürlich-schematisches Absetzen nach 15 Monaten u.U. ein nicht nur forensisch-haftungsrechtliches Himmelfahrtskommando.
Und, ganz nebenbei, eine Blutung/Neoplasie im oberen GI-Trakt nach Absetzen von PPI's z.B. bei chron. Refluxkrankheit/Barrett-Ösophagus sind u.U. ein grob fahrlässiger Behandlungsfehler.
Unsere Leitlinien der Fachgesellschaften sehen ein routinemäßiges Absetzen nach 15 Monaten erst gar nicht vor:
Aus "UNIPOLARE DEPRESSION - S3-Leitlinie und Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Unipolare Depression, 2. Auflage" von 2015 einschl. Bearbeitung/Stand 3/2017
"3-14_NEU_2015 Zeitlicher Ablauf einer Antidepressiva-Behandlung - Ab Erreichen der Standarddosierung sollten vier Wochen (bei älteren Patienten: sechs Wochen) wegen der Wirklatenz abgewartet werden, bis gemeinsam mit dem Patienten beurteilt wird, ob eine Response vorliegt. Hierzu ist eine gute Dokumentation der Symptomatik bei Behandlungsbeginn erforderlich. Dieser Bewertungstag sollte bereits zu Beginn der Medikation mit dem Patienten vereinbart werden. Bei vielen Antidepressiva sollte schrittweise bis zur Standarddosierung aufdosiert werden. Diese Aufdosierungsphase sollte so lange sein, wie es die Verträglichkeit erfordert, aber so kurz wie möglich, da diese Zeit nicht zur Wirklatenz hinzu gezählt werden kann. Während der Aufdosierungsphase und der Beobachtung der Wirklatenz sollte eine sorgfältige Überwachung möglicher Nebenwirkungen erfolgen. Bei Response am Entscheidungstag sollte die Fortsetzung der Medikation bis zur Remission mit anschließendem Übergang in die Erhaltungstherapie erfolgen. Bei Non-Response sollte dem Patienten eine Veränderung der Behandlungsstrategie empfohlen werden. Expertenkonsens"...
"Zur Aufklärung gehört ferner, dass von Therapiebeginn an auch die Gesamt-Behandlungsdauer thematisiert wird, z. B. dass auch nach Abklingen der depressiven Symptomatik ein Antidepressivum zur Remissionsstabilisierung mindestens für ca. sechs Monate weiter eingenommen werden sollte. Wichtig ist auch, dass auf die Möglichkeit von Absetzerscheinungen bei raschem Absetzen eines Medikaments, einer Dosisreduzierung oder einer unre- gelmäßigen Einnahme hingewiesen wird"...
"3.3.3.4 Absetzen der Medikation
Antidepressiva sollten in der Regel schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen reduziert werden. In einigen Fällen werden auch längere Zeiträume benötigt. Fluoxetin hingegen kann gewöhnlich wegen seiner sehr langen Halbwertszeit über einen kürzeren Zeitraum abgesetzt werden. Solange die Absetzerscheinungen mild ausgeprägt sind, sollten die Patienten beruhigt und die Symptome überwacht werden. Falls die Symptome schwer sind, sollte das Wiederansetzen des ursprünglichen Antidepressivums (oder eines mit längerer Halbwertszeit aus derselben Wirkstoffklasse) in wirksamer Dosierung erwogen und es unter Überwachung noch langsamer abgesetzt werden."
https://www.leitlinien.de/nvl/depression
https://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/depression/depression-2aufl-vers1-kurz.pdf
https://www.leitlinien.de/nvl/html/depression/kapitel-1
Es kann doch nicht einfach um kosten- und aufwand-sparendes Absetzen einer Antidepressiva-Behandlung nach 15 Monaten gehen, sondern um individualisierte Medizin, Therapiesicherheit ("so viel und so lange wie nötig - so wenig und so kurz wie möglich") und HELFEN/HEILEN/LINDERN/SCHÜTZEN.
Alles andere ist falsch verstandene Medizin-Ökonomie mit verinnerlichtem Sparzwang, statt ebenso empathische wie ökonomisch sinnvoll eingesetzte medizinische Versorgung für unsere Patientinnen und Patienten weiter zu entwickeln.