Musik eröffnet Wege der Verständigung, die der Sprache verschlossen sind. Das gilt nicht nur für Konzertbesucher, sondern auch für Menschen mit Demenz. Neurologen können es inzwischen erklären: Die Musikalität stirbt zuletzt.
Wer einmal im Pflegeheim Menschen mit Demenz vorgesungen, -gespielt oder ihnen auch nur mit alten Schlagern aus der Konserve eine Freude gemacht hat, der kennt das Phänomen: Menschen, die mit Worten kaum mehr ansprechbar sind, reagieren sensibel auf Musik. Sie bringt Erinnerungen ins Bewusstsein und weckt scheinbar teilnahmslose demente Patienten wieder auf.
Aber nicht nur bei ihnen erreicht die Musik Bereiche, deren Zugang ansonsten für immer verschlossen schien. Clive Wearing, britischer Dirigent und Tenor sowie langjähriger Musikprogrammdirektor der BBC, litt an einer Herpes-Enzephalitis. Sie sorgte für eine fast vollständige Amnesie – sein Erinnerungsvermögen reichte nur wenige Sekunden zurück. Wearing tat sich auch schwer damit, seine Emotionen zu kontrollieren. Dennoch konnte er weiterhin problemlos seinen Chor dirigieren oder bekannte Stücke am Klavier spielen. Einen ähnlichen Fall beschreibt Carsten Finke von der Berliner Charité: Die Herpes-Infektion raubte dem Cellisten die Erinnerung, nicht aber die Erinnerung an Musikstücke, die im Vergleich zu anderen professionellen Musikern vollständig erhalten blieb. Aus Kanada stammt schließlich ein Fall eines Alzheimerpatienten, der biografische Erinnerung, Sprache und logisches Denken fast vollständig verloren hatte, sich aber an ihm vertraute Lieder erinnerte und mitsang. Nicht selten kommen auch persönliche Erinnerungen wieder zum Vorschein, sobald sie mit einer Musik verknüpft sind, die bei der betreffenden Begebenheit eine Rolle gespielt hatte.
Musik spielt aber nicht nur bei der Erinnerung eine Rolle, sondern auch beim Lernen, bei der Psychotherapie oder der Linderung von Schmerzen. Mit Musik prägen sich viele Schüler Fakten leichter ein, Depressionen lassen sich mit geeigneter Musik eher behandeln und rhythmische Akkorde beeinflussen Herzschlag und Hormonspiegel. Besonders in der Pflege spielen Klänge eine besondere Rolle. Musiktherapie hat nachgewiesene Erfolge. Erst vor kurzem zeigte eine Studie aus Finnland, dass Patienten mit milder bis moderater Demenz aufmerksamer sind, wenn sie Musik hören. Wohlklingende Tonfolgen gleichen Stimmungsschwankungen aus, Selber-Singen wirkt gegen mangelnden körperlichen Antrieb. Schließlich konnten sich, so das Ergebnis einer früheren Studie, Alzheimer-Patienten wesentlich besser an gesungene als an vorgetragene Texte erinnern, während es bei der gesunden Kontrollgruppe kaum Unterschiede gab.
Für das Erinnerungsvermögen eines Menschen sind im Gehirn vor allem die Temporallappen und der Hippocampus zuständig, der als Schaltzentrale für das Speichern und Abrufen von Inhalten der menschlichen Festplatte gilt. Dort, so dachte man bis vor einiger Zeit, könnten auch Ohrwürmer und Lieblingslieder ihren Platz haben. Mit den Erfahrungen von Schlaganfall-, Enzephalitis- und Demenz-Patienten sieht es jedoch nun so aus, als ob die Musikerinnerung im Gehirn einen anderen Platz gefunden hätte als Faktenwissen und die Erinnerung an Geschehnisse aus der eigenen Vergangenheit. Dazu passen auch die Ergebnisse einer Untersuchung von Jörn-Henrik Jacobsen und seinen Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognition und Neurowissenschaften und der Universität von Amsterdam und dem französischen Caen. Zunächst versuchten sie bei gesunden Personen den Sitz für das Musikgedächtnis zu kartieren. Ihre Testpersonen identifizierten zunächst wohlbekannte Musikstücke. In Kombination mit unbekannten Stücken und mit einer Vorab-Erinnerungshilfe (um die unbekannten Stücke im Kurzzeitgedächtnis zu verankern) spielten die Forscher die Stücke ihren Probanden in der Magnetresonanz-Röhre vor. „Für die Langzeit-Musikerinnerung identifizierten wir eine Region als essenziell, die Teil des supplementär-motorischen Areals (SMA) und des vorderen zingulären Kortex (ACC) ist“, berichtet Jacobsen von den Ergebnissen. Der Bereich gehört zum Neokortex und spielt eine Rolle bei komplexen Bewegungen und der Bewertung von Erwartungen.
Im zweiten Teil der Studie untersuchten die Forscher dann die zuvor identifizierten Regionen bei 20 Alzheimerpatienten, die Degenerationserscheinungen aufwiesen, wie sie für die Krankheit typisch sind. Dabei ist vor allem der Hippocampus betroffen, daneben aber auch Temporal- und Parietallappen. Die Regionen des Musikgedächtnisses bleiben dagegen größtenteils von der Zerstörung verschont, nicht jedoch von ß-Amyloid-Ablagerungen. SMA und ACC gehören zu den Regionen, die bei fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung mit als letztes zugrunde gehen. Im Vergleich zu gesunden Gehirnen sind Nervenverbindungen, die den ACC mit anderen Regionen verbinden, sogar noch stärker ausgeprägt. Es sind nicht nur Demenzen vom Alzheimer-Typ, bei denen musikalische Wahrnehmung und Fähigkeiten in einem scheinbar geschützten Bereich des Gehirns lange Zeit zugänglich bleiben. Auch bei anderen Formen der Gehirndegeneration sind Patienten für Musik zugänglich, wenn andere Kommunikationswege verbaut sind. Wer ein Instrument spielt oder bekannte Melodien wiedererkennt, bemüht vor allem sein prozedurales Gedächtnis. Daher lassen sich diese Erinnerungen nicht willentlich abrufen, sondern kommen scheinbar spontan an die Oberfläche.
Dieses Wissen könnte mit entsprechender Anwendung neuen Schwung in die Pflege von dementen Menschen bringen, auch wenn die aktuelle Leitlinie für die Versorgung dieser in der Musiktherapie noch keine ausreichende Evidenz sieht. Das muss aber nicht unbedingt an deren ungenügender Wirkung liegen. Die bisherigen Studien, so die Beurteilung der Experten, seien einfach methodisch nicht gut genug geplant und durchgeführt oder aber zu klein. Letzteres gilt wohl auch für eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung aus Ohio/USA. Die persönliche Playlist hat demnach nicht nur einen starken, positiven Einfluss auf das Erinnerungsvermögen, sondern auch auf mögliche depressive Stimmung, Verhalten und Zuwendung zum Gegenüber. Ähnlich sehen das auch Linda Gerdner und Melen McBride aus Stanford in einem Artikel zu einem Musiktherapie-Leitfaden für Demenz-Patienten. Ihre Erfahrung: Musik baut Ängste und Erregung besonders bei diesen pflegebedürftigen Menschen ab. Linda Gerdner ist auch Autorin einer 49-seitigen Broschüre, die als „Evidence based Guideline of Individualized Music for Persons with Dementia“ bisherige Erkenntnisse dokumentiert und Tipps für die Musiktherapie bei Patienten gibt – inzwischen immerhin schon in der fünften Auflage. Aus eigener Erfahrung bei Musikaufführungen im Pflegeheim traut sich der Autor zu behaupten: Musik öffnet nicht nur die Herzen von Menschen, sondern auch Möglichkeiten zur Verständigung. Sie schließt Erinnerungen an die Vergangenheit auf und öffnet damit einen Blick auf die eigene Persönlichkeit. Neue Erkenntnisse aus der Neurologie können uns jetzt auch immer besser erklären, warum das so ist.