Sie saß den ganzen Tag wie auf glühenden Kohlen. Wartete und wartete auf den erlösenden Anruf des Arztes. Endlich würde sie erfahren, ob die Krebstherapie angeschlagen hatte. Wenn er nur angerufen hätte. Sie fühlte sich ohnmächtig und hilflos.
Hat er aber nicht. Liebesanrufe, die man voller Sehnsucht erwartet, sind gegen nicht erfoltge Arztanrufe der reinste Kindergarten. Ich fühlte mich erinnert, an das Gefühl damals, als mein Vater am Herzen operiert wurde:
„Sobald wir fertig sind, rufen wir sie an!“
Ich war freudig überrascht und – wider besseren Wissens – glaubte ich diesem Arzt. Wider besseren Wissens deshalb, weil ich gefühlt 1.000 Mal in meiner Laufbahn als Pflegeperson Ärzte gefragt hatte: „Hast du schon die Angehörigen angerufen?“ Und sie meistens völlig arglos die Schulter zuckten und „Mach ich gleich!“, sagten. In meiner Welt waren wir es, das Pflegepersonal, das hinter diesen Anrufen her war. Weil wir wussten, wie sehr Patienten und Angehörige warteten.
Anrufen? Ja klar, später
Und bestimmt hätte Sie auch gleich angerufen, wenn, ja wenn nicht wieder irgendwas dazwischen gekommen wäre. Eine eilige Blutabnahme hier, ein Patientengespräch dort.
„Hast du schon angerufen?“
„Ja. Mach ich jetzt!“
Und schon klingelt wieder das Telefon und aus die Maus mit dem Gedanken. Ich kenne es zu gut. Der schönste Vorsatz nützt nichts, wenn immer was dazwischen kommt.
Und nun wartete ich. Und meine Mutter. Mein Mann und meine Kinder. Meine Schwester. Ihr Tochter. Die über 90-jährige Schwester meines Vaters.
„Hat er bei dir schon angerufen?“
„Nein!“
„Naja – es kommt ja oft was dazwischen!“
Nach fünf Stunden war ich mürbe. Ebenso der Teppich, der deutliche Laufspuren im Kreis zeigte.
Unerträgliches Nichtwissen
Ich war mürbe vor Angst und Sorge. Aus einem: Naja, bestimmt ist einfach was dazwischen gekommen, wurde ein: Um Himmelswillen. Es wird doch nichts passiert sein? Und der Grund, warum nach zehn Stunden Operation immer noch keiner angerufen hat ist: Aufruhr und Reanimation im OP? Lebt mein Vater überhaupt noch? Aber er hat doch gesagt, er ruft gleich an …..
Da weinte ich. Da konnte ich nicht mehr. Ich, die Königin der Selbstbeherrschung. Die Freundin des positiven Gedankens. Die Beherrscherin der Bewahrung jeglicher Ruhe.
Die Erlösung
Und als ich fertig war, ließ ich mich durch die halbe Uniklinik verbinden. Bis ich endlich an der Stelle landete, an die ich wollte. Eine Pflegeperson war dran. „Ja. Ihr Vater ist bei uns. Schon seit vier Stunden. Er ist noch beatmet, aber kreislaufstabil. Alles sieht soweit gut aus.“
Da weinte ich wieder. Mehr wollte ich nicht wissen. Mehr brauchte ich nicht.
All das kam wieder hoch, als meine Freundin sagte: „Er hat nicht angerufen!“
Es ist in Ordnung, wenn Ärzte nicht anrufen. Keine Zeit haben. In Arbeit ertrinken. Blutende Ohren vom Dauertelefonieren haben. Irgendwann auch mal nach Hause gehen wollen. Es ist in Ordnung, wenn auch unschön für den, der so dringend auf diesen einen Anruf wartet. Aber das kann man verstehen.
Sagt es nicht
Aber bitte, liebe Ärzte und Ärztinnen: Sagt dann nicht, dass ihr anrufen werdet. „Ganz bestimmt. Aber natürlich, rufen wir sie an. Sie machen sich ja bestimmt Sorgen!“
Denn es ist nicht in Ordnung, wenn Ärzte diese Sätze wie einen kleinen Beruhigungschultertätschler sagen. Und glaubt mir, ich habe hunderte von diesen Beruhigungschultertätschler ihn meiner Laufbahn erlebt! Dahingesagt, um den Angehörigen loszuwerden. Damit endlich Ruhe ist und keine weiteren Fragen auf einen einstürmen.
Es ist ein Unterschied, ob man nicht kann oder nicht will. Und Überraschung: Man merkt es.
Beauftragt zumindest Kollegen
Im Falle meiner Freundin bin ich mir sicher, dass der Arzt nicht konnte. Im Falle des Operateurs meines Vaters weiß ich es nicht. Ich vermute zweiteres, nachdem ich ähnliches von Zimmernachbarn hörte.
Sagt es nicht.
Sagt es nicht, wenn ihr es nicht einhalten könnt. Beauftragt einen Kollegen, die Pflege, Arzthelferinnen, die kurz durchklingeln und Bescheid geben, dass es heute nicht klappen wird, aber vielleicht morgen. Oder das alles soweit in Ordnung ist.
Lasst den anderen nicht Spuren in den Teppich treten und halb wahnsinnig vor Angst werden.
Und dem gedankenlosen Rest, den es durchaus gibt und den ich oft erlebt habe, wünsche ich unbeantwortete Liebesanrufe zum Warmwerden.
Bildquelle: Billy Brown, flickr