Werden die Nervenbahnen zwischen Hirn und Gliedmaßen ganz oder teilweise unterbrochen, hat das für die Körperwahrnehmung im Gehirn drastische Konsequenzen. Je größer die Zerstörung im Rückenmark, desto stärker ist die Körperrepräsentation im Gehirn verändert.
Wer schon einmal lokal betäubt wurde und zusehen durfte, wie an seinem Bein oder Arm operiert wurde, kennt diese seltsame Wahrnehmung. Das eigene Körperteil kommt einem in diesem Moment fremd vor, als gehöre er nicht zum eigenen Körper. Dies liegt unter anderem daran, dass das Gehirn noch immer die Position gespeichert hat, welche die Gliedmaße vor der örtlichen Betäubung innehatte. Sobald die Wirkung der Anästhesie abklingt, ist der Spuk vorbei.
Bei Menschen, die eine Verletzung des Rückenmarks oder einen Schlaganfall erlitten haben, geht diese „Entfremdung“ der eigenen Gliedmaßen jedoch nicht vorüber. Denn eine solche Verletzung beeinträchtigt oder unterbricht die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper. Dies beeinflusst die anatomische Rekonstruktion des Körpers im Gehirn – die Körperrepräsentation. Denn Hirn und Gliedmaßen tauschen ständig somatosensorische Informationen aus. Auch das Auge ist an der Körperwahrnehmung beteiligt. Das Gehirn seinerseits verarbeitet diese visuellen und somatosensorischen Informationen zu einem Bild des Körpers, das in der Großhirnrinde „abgelegt“ wird. Unter Experten und Ärzten ist bis heute allerdings umstritten, ob und wie stark die Schädigung des Rückenmarks die Körperrepräsentation verändert. Die Studien, die dazu durchgeführt wurden, sind widersprüchlich. Nun haben Forscher unter Co-Leitung von ETH-Professor Roger Gassert mit einer neuen Studie mehr Licht in die Sache gebracht. Im Rahmen dieser Studie untersuchten die Forscher mithilfe eines etablierten Tests, ob und wie sehr die Körperrepräsentation bei Querschnittgelähmten von derjenigen bei Gesunden abweicht. Dazu erarbeitete Erstautor Silvio Ionta eine Aufgabe, bei der die Probanden Bilder von fremden Körperteilen wie Fuß und Hand sowie Ganzkörperfotos gezeigt erhielten. Die Probanden konnten ihre eigenen Hände und Füße während der Bildpräsentation nicht sehen, hielten diese aber entweder parallel zueinander oder gekreuzt. Die Probanden – darunter je elf mit kompletter oder mit teilweiser Durchtrennung des Rückenmarks sowie 16 Kontrollprobanden mit intaktem Rückenmark – mussten anhand der präsentierten Bilder die Körperseite der gezeigten Körperteile bzw. des Körpers bestimmen. Die Bilder wurden überdies in verschiedenen Orientierungen gezeigt. Die Forscher maßen schließlich die Reaktionszeit zwischen Bildpräsentation und verbaler Antwort. „Mit diesem Test können wir indirekt auf objektive Weise abfragen, ob und wie Hirn und Gliedmaßen miteinander kommunizieren“, sagt Gassert.
Am schwierigsten war die Aufgabe für Probanden mit vollständiger Rückenmarksdurchtrennung. Für die Beurteilung der Lage und Orientierung des gesamten Körpers brauchten sie bis zu 50 % mehr Reaktionszeit als Probanden mit unversehrtem Rückenmark. „Je stärker das Rückenmark zerstört ist, desto größer ist die Reaktionszeit für die Beurteilung von Bildern des Körpers, desto stärker ist auch die Ganzkörper-Repräsentation im Gehirn verändert“, so Gassert. Das Gehirn nehme während dem Betrachten der Bilder unbewusst die eigene aktuelle Körperlage wahr und diese beeinflusse die Beurteilung des Bildes. Sei das Rückenmark komplett durchtrennt, erhalte das Gehirn nur noch visuelle Reize. „Die Körperrepräsentation ist somit gestört, und es fällt den Betroffenen schwerer, die gestellte Aufgabe zu lösen.“ Mit den Tests konnten die Forscher aber auch eine Einschätzung darüber gewinnen, wie stark die teilweise oder komplette Querschnittlähmung die Repräsentation der gezeigten Körperteile beeinflusst. So war bei allen Probanden die Handrepräsentation unverändert. Hielten die Probanden während den Tests ihre eigenen Hände gekreuzt, stieg die Reaktionszeit bei allen drei Gruppen vergleichbar an. Die Haltung der Füße jedoch beeinflusste die Reaktionszeit merklich. Dabei zeigten Probanden mit kompletter Querschnittlähmung eine geringere Reaktionszeit, bis sie ihre Antwort formulieren konnten, als Probanden mit teilweiser Lähmung und gesunde Kontrollprobanden. Dies deutet darauf hin, dass das Gehirn von Menschen mit kompletter Durchtrennung des Rückenmarks den Fuß anders repräsentiert als Menschen, deren Gehirn noch Informationen aus den unteren Extremitäten empfängt. Dass Probanden mit teilweiser oder kompletter Lähmung die Aufgaben ebenso genau und richtig wie gesunde Probanden lösen können, heißt für Gassert auch, dass die Repräsentation im Gehirn dynamisch und anpassungsfähig ist.
Die Studie hat laut Gassert auch Auswirkungen auf Rehabilitation und Therapie von Menschen mit Querschnittlähmungen. „Dieser Test kann in der Klinik dabei helfen, den Grad der Veränderung der Körperrepräsentation im Gehirn objektiv zu erfassen“, sagt der ETH-Professor. Er kann sich aber auch vorstellen, dass die mit diesem Testverfahren gewonnenen Erkenntnisse dabei helfen, die Netzwerke im Gehirn, die für die Körperrepräsentation zuständig sind, zu stimulieren und so aktiv zu erhalten, dies auch im Hinblick auf mögliche Mensch-Maschinen-Schnittstellen. Diese könnten in Zukunft wichtig werden, um das Gehen mit Exoskeletten oder Prothesen zu ermöglichen. „Dieser Ansatz könnte dabei helfen, die Körperrepräsentation auch nach einer Rückenmarksverletzung ‚wach‘ zu halten. In einem zweiten Schritt könnte dies dazu dienen, mentale Befehle standardisiert zu erzeugen und damit ein Exoskelett mit einer Gehirn-Computer-Schnittstelle zu bewegen“, sagt Gassert. Originalpublikation: Spinal cord injury affects the interplay between visual and sensorimotor representations of the body Silvio Ionta et al.; Scientific Reports, doi: 10.1038/srep20144; 2016