Empfindet man Schmerz, wenn man sieht, wie sich jemand selbst verletzt? Untersuchungen zeigen, dass empathische Reaktion und realer Schmerz in denselben Arealen verarbeitet werden. Durch den Vergleich von Erfahrungen kann das Gehirn Schmerz von Empathie unterscheiden.
Stellen Sie sich vor, Sie schlagen mit dem Hammer einen Nagel in die Wand und treffen dabei aus Versehen den Finger. Sie würden sich vermutlich Gewebe Ihres Fingers verletzen, körperliches Unbehagen empfinden und Ihre Aufmerksamkeit nur auf diesen Finger richten und hoffen. All das beschreibt physische und psychische Begleiterscheinungen von Schmerz – genauer gesagt, von am eigenen Körper erfahrenem nozizeptivem Schmerz, der durch die Erregung von Schmerzrezeptoren entsteht. Stellen Sie sich nun vor, Sie würden einen Freund dabei beobachten, wie er sich auf gleiche Weise verletzt. Sie würden ebenfalls buchstäblich vor Schmerz zusammenzucken und ebenfalls Schmerz empfinden, empathischen Schmerz in diesem Fall. Obwohl Ihr Körper in dieser Situation unversehrt geblieben wäre, würden Sie teilweise die gleichen Symptome verspüren: Sie fühlen ebenfalls Beklemmung, zucken möglicherweise zurück, um der Schmerzquelle zu entfliehen, und speichern Informationen über den Kontext der Erfahrung ab, um Schmerz in Zukunft zu vermeiden. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass die gleichen Hirnstrukturen – die vordere Inselregion und der mittlere cinguläre Cortex – aktiviert werden, egal ob es sich um persönlich erfahrenen oder empathischen Schmerz handelt. Trotz dieser Übereinstimmung in den zugrunde liegenden Hirnarealen wird jedoch bis heute heftig diskutiert, in wieweit sich beide Formen von Schmerz wirklich ähneln.
Um Klarheit in die Kontroverse zu bringen, schlagen Neurowissenschaftler nun einen neuen Denkansatz vor. Darunter auch Tania Singer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig: „Wir müssen wegkommen, von dieser Entweder-Oder-Fragestellung, ob es sich um echten Schmerz handelt oder nicht.“ Vielmehr müsste Schmerz als komplexes Zusammenspiel vieler einzelner Elemente betrachtet werden, die zusammen die komplexe Erfahrung „Schmerz“ ergeben. Dazu zählen sensorisch Prozesse, die beispielsweise verarbeiten, wo der Schmerzreiz ausgelöst wurde: in der Hand oder im Fuß? Außerdem emotionale Vorgänge, wie das negative Gefühl während des Schmerzes. „Entscheidend ist, dass die einzelnen Vorgänge auch bei anderen Erfahrungen eine Rolle spielen können, dann aber in jeweils anderer Zusammensetzung auftreten“, erklärt Singer. Beispielsweise, wenn uns jemand an der Hand oder am Fuß kitzeln würde oder wir Bilder leidender Personen im Fernsehen sehen. Andere Prozesse, wie die Reizung von Schmerzrezeptoren, sind vermutlich sehr spezifisch für Schmerz. Die Neurowissenschaftler schlagen demnach vor, die Bausteine von direktem und empathischem Schmerz zu vergleichen: Welche sind identisch und welche sind wiederum das Spezifische und Einzigartige der jeweiligen Schmerzform?
Einen entscheidenden Beleg für diesen Denkansatz liefert eine beinah zeitgleich veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Zusammenarbeit mit der Universität Genf: Sie konnte zum ersten Mal nachweisen, dass die vordere Inselregion und der mittlere cinguläre Cortex bei schmerzhaften Erfahrungen sowohl generellere Bestandteile, die auch bei anderen negativen Erfahrungen wie Ekel oder Ungerechtigkeitsempfinden auftreten, als auch schmerz-spezifische Informationen verarbeiten – egal, ob es sich um direkten oder empathischen Schmerz handelt. Die allgemeineren Komponenten signalisieren dabei, dass es sich überhaupt um ein Negativereignis handelt und nicht etwa um etwas Freudiges. Die spezifischen Informationen geben wiederum Auskunft darüber, dass es sich tatsächlich um Schmerz handelt – statt um Ekel oder Ungerechtigkeit und ob ich oder der andere den Schmerz erlebt. „Sowohl die unspezifischen als auch die spezifischen Informationen werden parallel in den für Schmerz zuständigen Hirnstrukturen verarbeitet. Aber die Erregungsmuster sehen anders aus“, so Anita Tusche, ebenfalls Neurowissenschaftlerin am Leipziger Max-Planck-Institut und eine der Autoren der Studie.
Indem unser Gehirn diese verschiedenen Komponenten parallel bewältigt, können wir verschiedene unangenehme Erfahrungen zeit- und energiesparend verarbeiten. Gleichzeitig können wir aber auch die Detailinformationen schnell registrieren, sodass wir wissen, um was für ein unangenehmes Ereignis es sich genau handelt - und ob es uns direkt oder einen anderen betrifft. „Dass unser Gehirn Schmerz und andere unangenehme Erfahrungen zu großen Teilen gleich verarbeitet, egal, ob wir sie selbst oder andere sie erleben, hat große Bedeutung für das soziale Miteinander“, so Tusche. „Denn es lässt uns verstehen, was der andere durchmacht.“ Originalpublikation: The Anatomy of Suffering: Understanding the Relationship between Nociceptive and Empathic Pain Jamil Zaki et al.; Trends in Cognitive Sciences, doi: 10.1016/j.tics.2016.02.003; 2016