Guido Westerwelle ist tot. Der frühere Außenminister und FDP-Chef litt seit Mitte 2014 an einer akuten myeloischen Leukämie (AML). Was bleibt, ist die Hoffnung auf Fortschritte in Diagnostik und Therapie. Ein Blick in die Pipeline.
Fast zwei Jahre nachdem Ärzte zufällig eine akute myeloische Leukämie (AML) bei Guido Westerwelle (54) entdeckt hatten, ist der frühere FDP-Spitzenpolitiker an den Folgen der Krankheit verstorben. Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Jahr für Jahr erkranken mehr als 11.400 Menschen an unterschiedlichen Leukämien, berichtet die Deutschen Krebsgesellschaft. Darunter befinden sich 3.600 AML-Patienten. Sie erhalten laut Leitlinie eine Induktionstherapie und eine Postremissionstherapie. Primäres Ziel ist die komplette Remission. Treten Rezidive auf, bleiben allogene Stammzelltransplantationen. Was tut sich momentan in der Forschung?
Michael Fiegl aus München hat untersucht, welche Bedeutung Knochenmarksnischen beim Krankheitsprozess haben. In dieser Umgebung liegt der Sauerstoffgehalt bei lediglich einem Prozent – Luft enthält 21 Prozent des wichtigen Gases. Fiegl konnte zeigen, dass Leukämiezellen unter hypoxischen Bedingungen weniger empfindlich auf Chemotherapien reagieren. Im Gegensatz zu normalen Blutstammzellen schütten sie vermehrt IL-8 aus, was sich durch einen niedrigen Sauerstoff-Partialdruck noch verstärkt. Dieser Botenstoff zeigt keinerlei Wirkung auf Leukämiezellen, lockt jedoch Stromazellen an. Tatsächlich wies Fiegl in Gewebeschnitten des Knochenmarks eine höhere Zahl an Stromazellen bei Leukämiepatienten nach, verglichen mit Gesunden. Es könnte Sinn machen, nicht nur Leukämiezellen selbst, sondern auch deren Umfeld zu attackieren. Doch das ist noch Zukunftsmusik.
Wesentlich weiter sind Wissenschaftler bei Midostaurin vorangekommen. Der Arzneistoff wirkt nicht nur als oraler FLT3-Kinase-Inhibitor. Er hemmt auch den Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF), die Proteinkinase C, die Tyrosinkinase KIT und den Platelet-derived growth factor (PDGFR). Im Rahmen der industrienahen RATIFY-Studie wurden 717 Patienten mit AML und Mutationen im FLT3-Gen rekrutiert. Alle Teilnehmer hatten zuvor noch keine Therapie erhalten. Sie wurden mit Daunorubicin plus Cytarabin therapiert. Bei einer Remission folgten vier Zyklen Cytarabin. Im Verum-Arm setzen Ärzte bei Induktion und Konsolidierung auf orales Midostaurin, in der Kontrollgruppe auf Placebo. Allogene Stammzelltransplantationen waren generell möglich. Beide Gruppen unterschieden sich hinsichtlich des primären Endpunkts überraschend stark voneinander. Nach 80 Monaten erfassten Onkologen ein Gesamtüberleben von 74,7 Monaten unter Midostaurin, verglichen mit 25,6 Monaten unter Placebo. Ähnlich deutlich war der Unterschied beim ereignisfreien Überleben (8,0 versus 3,6 Monate). Beim ASH-Kongress sprachen Onkologen von der „ersten genotypadaptierten AML-Therapie mit deutlichem Einfluss auf die Lebenszeit“. Da AML häufig polyklonal ist, wirken Multikinaseinhibitoren wie Midostaurin möglicherweise besser als Moleküle, die hoch spezifisch ein bestimmtes Enzym hemmen.
Führen Chemotherapien nicht zum Ziel, bleiben Stammzelltransplantationen als Ultima Ratio. Sie sind generell mit hohen Risiken verbunden. Dazu gehören toxische Nebenwirkungen der myeloablativen Chemotherapie und der Bestrahlung, Infektionen, aber auch Graft-versus-Host-Reaktionen. Onkologen wünschen sich schon länger Möglichkeiten, um Patienten zu finden, die vom Therapieregime profitieren. Mit zytologischen Methoden gelang es ihnen bisher nur, eine kleine Hochrisikogruppe zu identifizieren. Adam Ivey aus London berichtet jetzt von molekularbiologischen Markern, die auf besonders niedrige Risiken hindeuten. Zusammen mit Kollegen der AML Working Group am UK National Cancer Research Institute hat er 346 Menschen mit AML untersucht. Alle Teilnehmer hatten Anomalien im Nucleophosmin-Gen (NPM1). Ivey wies 27 verschiedene Mutationen nach, von denen sich 90 Prozent in drei Kategorien einordnen ließen: deutliche Pluspunkte für einen PCR-Test. Bei 15 Prozent aller Studienteilnehmer fand der Wissenschaftler typische NPM1-Mutationen nach zwei Chemotherapie-Zyklen. Er bewertet dies als Hinweis auf minimale Resterkrankungen (MRD, minimal residual diseases). Beim Nachweis einer MRD entwickelten 82 Prozent innerhalb von drei Jahren Rezidive, und 25 Prozent waren noch am Leben. Ohne diesen Marker lag die Rezidivrate bei 30 Prozent und die Überlebensrate bei 75 Prozent. Hier könnte unter Berücksichtigung weiterer Risiken von einer Stammzelltransplantation abgesehen werden. Iveys Fazit: NPM1-Mutationen eignen sich als Marker zur Therapieentscheidung.
Jenseits neuer Strategien bleibt die Frage, wie viele Menschen tatsächlich zur Stammzellspende bereit sind. Außerhalb eigener Verwandter liegt die Wahrscheinlich bei eins zu 20.000 bis eins zu mehreren Millionen, dass HLA-Typen übereinstimmen. Guido Westerwelle ging deshalb mit seiner Erkrankung sehr offensiv um. Nachdem sein Buch „Zwischen zwei Leben“ erschienen war, folgten Auftritte im Fernsehen und Berichte in Online-Medien. Viele Menschen registrierten sich daraufhin bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS).