Der Konzern 3M veröffentlicht ein neues Softwarepaket für Krankenhäuser. Darin geht es nicht nur um Qualitätsindikatoren. Vielmehr haben Chefs die Möglichkeit, Leistungen von Ärzten zu vergleichen. Bereits heute sind die Folgen des wachsenden Drucks unübersehbar.
Beim Kongress der Healthcare Information and Management Systems Society (HIMSS) in Las Vegas stellten Größen der Branche ihre Innovationen vor. Von 3M kam eine neue Version der 360 Encompass Health Analytics Suite. Das „Physicians Compare“-Modul bringt einige Funktionen zum Qualitätsmanagement mit, um vermeidbare Risiken zu identifizieren. Dazu gehören beispielsweise Komplikationen, die aufgrund von Behandlungen aufgetreten sind, aber auch vermeidbare Notfalltherapien. Leistung und Effizienz von Ärzten bestimmen die Tools ebenfalls, gemessen an einer Vergleichsgruppe („Peer“). Hier geht es auch um die Frage, welche Ressourcen Mediziner einsetzen und wie sich ihre Performance noch steigern lässt. Weitere Pakete, nämlich „State Compare“ und „Patient Compare“, vergleichen Qualitätsindikatoren beziehungsweise Kosten aus Patientensicht mit Standards der Branche. Bleibt zu befürchten, dass der administrative Druck auf Kollegen in der Klinik weiter wachsen wird.
Zum Hintergrund ein paar Zahlen aus Deutschland – früher oder später werden Ärzte auch bei uns mit US-Tools zu kämpfen haben. Wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) berichtet, gingen Gutachter in 2014 genau 14.663 vermeintlichen Behandlungsfehlern nach. Ein Jahr zuvor waren es noch 14.585. Sie bestätigten 3.796 Fälle (2013: 3.687). Knapp zwei Drittel der Vorwürfe betrafen Behandlungen in Krankenhäusern, ein Drittel richtete sich gegen niedergelassene Kollegen. Die meisten Verdachtsmomente bezogen sich auf chirurgische Eingriffe. In der aktuellen Statistik standen 7.845 Fälle in direktem Zusammenhang mit OPs. Ein Behandlungsfehler wurde in 24,3 Prozent aller untersuchten Ereignisse gutachterlich festgestellt. Ob Software einzig und allein zu mehr Sicherheit führt, ist fraglich. „Wenn zum Beispiel bei Operationen immer eine standardisierte OP-Checkliste genutzt wird, dann kann einfach verhindert werden, dass offensichtliche Probleme und bekannte Risiken im Einzelfall übersehen werden“, sagt Privatdozent Dr. Max Skorning, Leiter Patientensicherheit beim MDS. „Besteht eine solche Routine nicht, dann liegt es nahe, dass doch folgenschwere Fehler aufgrund von Verwechslungen oder Missverständnissen geschehen können.“ Er verweist auf Analysen sogenannter „Never Events“, also folgenschwerer, aber vermeidbarer Irrtümer.
Jenseits digitaler Maßnahmen zur Qualitätssicherung befürchten US-Kollegen, dass neue Module von 3M den Druck im klinischen Alltag weiter erhöhen. Bereits heute sind die Folgen steigender Belastungen kaum zu übersehen. Besonders hart trifft es angehende Mediziner während ihrer Ausbildung, schreibt Douglas A. Mata von der Harvard Medical School, Boston [Paywall]. Zusammen mit Kollegen hat er eine Metaanalyse mit 54 Studien und 17.560 Nachwuchsärzten veröffentlicht. Zwar sind die mit einbezogenen Arbeiten hinsichtlich ihrer Methodik nicht unbedingt vergleichbar. Manche Forscher zogen den Fragebogen PHQ-9 (Patient Health Questionnaire) heran, andere verwendeten PRIME-MD (Primary Care Evaluation of Mental Disorders). Trotzdem zeigt sich ein erschreckendes Bild. Mata zufolge lag die geschätzte Prävalenz depressiver Symptome bei 20,9 Prozent (PHQ-9) bis 43,2 Prozent (PRIME-MD). In einem Editorial stellt Thomas Schwenk von der University of Nevada School of Medicine, Reno, Zusammenhänge zwischen depressiven Erkrankungen und Fehlern im Arbeitsalltag her. Auch die Pflege leidet unter dauerhaft überlasteten Fachkräften.
Seit Jahren bauen zahlreiche Kliniken trotz des steigenden Bedarfs an Pflegekräften Stellen in diesem Bereich ab. „Die Folge ist, neben der Erhöhung qualitativer und quantitativer Anforderungen, eine steigende Arbeitsbelastung für das Pflegepersonal“, heißt es von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Experten führen Fehlbeanspruchungen beim Pflegepersonal hauptsächlich auf arbeitsorganisatorische Aspekte zurück. Sie kritisieren, es gebe bei uns keine geeigneten Instrumente, um Gegebenheiten in der stationären Krankenpflege zu erfassen. „Dementsprechend erscheint es erforderlich, ein auf die deutschen Verhältnisse angepasstes Verfahren zu entwickeln und in Bezug auf Validitäts- und Reliabilitätskriterien zu überprüfen“, heißt es weiter. Grund genug für die BAuA, ein kriteriengeleitetes Bewertungs- und Gestaltungsverfahren zu entwickeln. Ihr Tool wurde anschließend auf 45 Pflegestationen, in zwei OP-Bereichen und einem Anästhesiebereich evaluiert. Dabei konnten die Forscher wenig überraschend Schwächen bei der Organisation feststellen. Setzen Führungskräfte hier an, gelingt es, Ressourcen freizusetzen, ohne den Druck auf Mitarbeiter weiter zu erhöhen.