Wenn Patienten schwierig sind, erhöht das die Wahrscheinlichkeit für fehlerhafte Diagnosen. Denn ihr Verhalten lenkt Ärzte ab und hindert sie daran, klinische Informationen angemessen zu verarbeiten. Eine Reihe von Maßnahmen könnte helfen, „emotionale“ Fehler zu vermeiden.
Menschen, die als unsympathisch oder „unangenehm“ empfunden werden, haben es im Leben schwerer: Sie werden zum Beispiel zu härteren Gefängnisstrafen verurteilt [Paywall]. Medizinische Fachartikel [Paywall] legen nahe, dass Ähnliches auch für „schwierige“ Patienten gilt: Nämlich, dass sie häufiger falsche Diagnosen und eine nicht-angemessene Behandlung erhalten. Bislang fehlten allerdings wissenschaftliche Belege für diese Annahme. Ein Forscherteam um Henk Schmidt und Silvia Mamede vom Erasmus Medical Center in Rotterdam hat nun in zwei Studien erstmals untersucht, wie sich schwieriges Patientenverhalten auf die diagnostische Genauigkeit auswirkt. Die Ergebnisse publizierten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „British Medical Journal Quality & Safety“. In ihrer ersten Studie [Paywall] legten die Forscher 63 Ärzten im letzten Jahr ihrer Facharztausbildung in Allgemeinmedizin eine Reihe von Fallvignetten vor. Darin wurden sechs verschiedene Krankheitsbilder beschrieben: drei weniger komplexe, nämlich Lungenembolie, Lungenentzündung und Hirnhautentzündung, sowie drei komplexere, nämlich Blinddarmentzündung, Schilddrüsenüberfunktion und akute Bauchspeicheldrüsenentzündung durch erhöhten Alkoholkonsum. Jeweils eine Version der sechs Fallbeschreibungen schilderte einen Patienten mit schwierigem Verhalten, in der anderen Version wurde ein neutrales Patientenverhalten geschildert. Die „problematischen“Falldarstellungen beschrieben dabei Patienten, die die Kompetenzen des Arztes in Frage stellen, den ärztlichen Rat ignorieren, sich aggressiv oder sehr fordernd verhalten oder vollkommen hilflos wirken. Dieses heikle Verhalten beeinflusste die Diagnosestellung der Mediziner deutlich: So war die Wahrscheinlichkeit für eine Fehldiagnose bei den komplexen Krankheitsbildern um 42 Prozent erhöht, wenn es sich um einen schwierigen Patienten handelte. Bei weniger komplexen Fällen erhielten solche Patienten immerhin sechs Prozent häufiger eine falsche Diagnose. Die Unterschiede zwischen einfachen und schwierigen Patienten blieben auch bestehen, wenn die Ärzte in einem weiteren Durchgang mehr Zeit hatten, um ihre Diagnose zu überdenken. Darüber hinaus gaben die Mediziner an, die Problempatienten deutlich weniger zu mögen als die unkomplizierten.
Eine zweite Studie [Paywall] des Forscherteams mit 74 Ärzten in der Facharztausbildung für Innere Medizin bestätigte die Ergebnisse: Hier war die Wahrscheinlichkeit für eine falsche Diagnose bei schwierigen Patienten um 20 Prozent erhöht. Zugleich untersuchten Schmidt, Mamede und ihr Team, auf welche Art das Problemverhalten die diagnostische Genauigkeit beeinträchtigt. Dabei stellten sie fest, dass sich die Ärzte bei schwierigen Patienten – im Vergleich zu unkomplizierten Patienten – später an weniger klinische Informationen und an mehr Details des Patientenverhaltens erinnern. „Das legt den Schluss nahe, dass das heikle Verhalten die gedanklichen Ressourcen der Ärzte stark beansprucht und sie davon abhält, die klinischen Informationen angemessen zu verarbeiten“, schreiben die Autoren. Zwar wurde die Reaktion der Ärzte nur anhand von schriftlichen Fallvignetten untersucht – was sich deutlich von einem realen Arzt-Patient-Gespräch unterscheidet. „Andererseits würde man erwarten, dass die gleichen Effekte im ‚wahren Leben‘ noch stärker sind“, betonen die Forscher. „Schwierige Patienten werden bei einer realen Begegnung vermutlich deutlich stärkere Gefühle hervorrufen und zu mehr diagnostischen Fehlern führen.“
Im ärztlichen Alltag sind komplizierte Patienten nicht gerade selten: Niedergelassene Ärzte berichten, dass etwa 15 Prozent ihrer Patienten im Umgang schwierig sind. Solche Patienten werden von ihren Behandlern als „frustrierend“ oder sogar „verhasst“ beschrieben – was ihre negativen Gefühle gegenüber den Patienten deutlich zeigt. In ihrer Ausbildung lernen Ärzte von Anfang an, ihre Gefühle zu kontrollieren, sodass sie sich nicht störend auf ihre ärztliche Aufgabe auswirken. „Es wird daher automatisch angenommen, dass Ärzte auch bei schwierigen Patienten ‚über den Dingen stehen‘ und sich nicht von subjektiven Reaktionen und negativen Gefühlen leiten lassen“, so das Forscherteam um Schmidt und Mamede. „Tatsache ist aber, dass schwierige Patienten Reaktionen auslösen können, die einer sachlich-reflektierten Diagnosestellung im Wege stehen.“ Aus Sicht der Wissenschaftler sollten Ärzte deshalb genau das Gegenteil tun: Sich ihre Gefühle gegenüber dem Patienten eingestehen. „Es wäre von Vorteil, wenn Ärzte und Medizinstudenten lernen würden, ihre emotionalen Reaktionen bei einem Patienten stärker zu beachten – und sich klar zu machen, dass dies ihre klinische Urteilsbildung beeinträchtigen kann“, so die Forscher. „Gleichzeitig sollten sie Strategien lernen, um solchen ungünstigen Einflüssen entgegenzuwirken.“
Insgesamt sollte dieses Thema im Medizinstudium und im klinischen Alltag mehr Beachtung finden, schreiben Donald Redelmeier und Edward Etchells von der kanadischen Universität Toronto in einem begleitenden Editorial. Möglichkeiten, um der Gefahr von Fehldiagnosen entgegenzuwirken, könnten bewusste Reflexion, Teamwork und Rücksprache mit Kollegen sowie diagnostische Checklisten und computergestützte Diagnostik sein. Ein strukturierteres diagnostisches Vorgehen könnte dazu beitragen, Urteilsfehler zu vermeiden, wenn der Arzt durch einen schwierigen Patienten durcheinandergebracht wird. „Symptomchecklisten oder Computerprogramme, die umfassende Differentialdiagnosen bereitstellen, könnten dazu beitragen, auch in einem solchen Fall die wesentlichen Informationen nicht zu übersehen“, schreiben Redelmeier und Etchells. So zeigt auch eine Review-Studie, dass gerade computerbasierte Entscheidungshilfen die diagnostische Genauigkeit deutlich erhöhen können. Weiterhin sei es nicht nur wichtig, seine Gefühle wahrzunehmen, sondern sich auch bewusst zu machen, was diese bedeuten können. „Ein Patient mit schwierigem Verhalten ruft beim Arzt manchmal das Bedürfnis hervor, das Gespräch einfach abzubrechen“, so Redelmeier und Etchells. „Dieses Gefühl könnte für den Behandler ein Signal dafür sein, dass die Gefahr besteht, eine fehlerhafte Diagnose zu stellen.“ Wer sich bewusst ist, dass seine Gefühle ihn zu Fehlern verleiten können, könnte bei schwierigen Patienten verstärkt im Team arbeiten oder einen Kollegen zu Rate ziehen. „Dazu ist natürlich eine gewisse Offenheit nötig – und beim beratenden Kollegen die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, betonen Redelmeier und Etchells. Neben diesen menschlichen Fähigkeiten bräuchte es zudem noch eins: Ausreichend Zeit, um solche Maßnahmen im ärztlichen Alltag umzusetzen. Originalpublikationen: Why patients’ disruptive behaviours impair diagnostic reasoning: a randomised experiment [Paywall] Sílvia Mamede et al.; BMJ Qual Saf, doi:10.1136/bmjqs-2015-005065; 2016 Do patients’ disruptive behaviours influence the accuracy of a doctor's diagnosis? A randomised experiment [Paywall] H. G. Schmidt et al.; BMJ Qual Saf, doi: 10.1136/bmjqs-2015-004109; 2016