Was die Säuglingssterblichkeit in Europa betrifft, befindet sich Deutschland im Mittelfeld. Warum sind die Zahlen hierzulande nicht besser? Eine mögliche Schwachstelle im System könnte das Arzt-Patienten-Gespräch sein. Weisen Gynäkologen genügend auf Risikofaktoren hin?
Die Sterblichkeit bei Kindern im ersten Lebensjahr ist EU-weit seit den 1990er Jahren stark gesunken. Statistiken zur Lebenserwartung stellen aber nur das Große und Ganze dar. „Der Kampf ist noch nicht gewonnen“, betont auch die Stiftung Kindergesundheit. Denn sieht man sich die Säuglingssterblichkeit in europäischen Ländern an, befindet sich Deutschland nur im Mittelfeld, während skandinavische Länder deutlich weniger Todesfälle zu verzeichnen haben. Woran liegt das? Vor allem auch daran, dass Gynäkologen im Arzt-Patienten-Gespräch manche wichtige Punkte vergessen oder zu wenig berücksichtigen – diese Vermutung liegt zumindest nahe, wenn man sich an den Ergebnissen einer aktuellen Studie orientiert. Wie aus der folgenden Grafik ersichtlich wird, gibt es deutliche regionale Unterschiede, die überraschen: Grafik © Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung In Deutschland erreichen 3,3 von 1.000 Lebendgeborenen ihren ersten Geburtstag nicht. Damit haben wir neben Österreich (3,1 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten), den Niederlanden (3,3), Frankreich (3,7) sowie der Schweiz (3,9) einen eher durchschnittlichen Platz im Mittelfeld. Schweden (2,5), Norwegen (2,3), Montenegro (2,2), Island (2,2), Finnland (1,7), Norwegen (1,7) und Slowenien (1,6) haben deutlich niedrigere Mortalitäten im ersten Lebensjahr. Alle Zahlen wurden von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, zuletzt im Jahr 2015 erhoben. „Dank der Fortschritte in der Perinatalmedizin konnte die Säuglingssterblichkeit in den letzten 50 Jahren auch bei uns um 90 Prozent gesenkt werden, sagt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Es bleibt dennoch beunruhigend, dass wir trotz hoher Aufwendungen für unser Gesundheitssystem immer noch nicht die erheblich niedrigeren Werte der skandinavischen Länder erreichen können.“ Erklärungsansätze liefert eine kürzlich veröffentlichte Studie, bei der Wissenschaftler zwei Extreme untersuchten: Sie verglichen England mit einer relativ hohen Säuglingssterblichkeit mit Schweden, das zu den Ländern mit niedriger Säuglingssterblichkeit zählt.
Ania Zylbersztejn © ResearchGate Das Vereinigte Königreich hat die höchste Kindersterblichkeit Westeuropas, nämlich 4,9 pro 1.000 Geburten innerhalb der ersten vier Lebensjahre. Das sind 25 Prozent mehr als in Frankreich, Deutschland, Italien oder Spanien. Gemessen an Schweden (2,7 pro 1.000 Geburten) ist der britische Wert überraschend hoch. Ania Zylbersztejn vom Farr Institute of Health Informatics Research, London, wollte herausfinden, welche medizinischen oder sozioökonomischen Besonderheiten diesen Unterschied erklären. Ihre Analyse erstreckt sich von der Geburt bis zum Ende des vierten Lebensjahrs. Basis von Zylbersztejn Studie waren Daten des englischen National Health Service mit 3,9 Millionen Geburten und 11.392 Todesfällen. Hinzu kamen eine Million Geburten und 1.927 Todesfälle aus Aufzeichnungen des schwedischen Gesundheitswesens. Der Erstautorin lagen Informationen zum Alter der Mutter, zur Schwangerschaft, zur Geburt und zum sozioökonomischen Status vor. Alle Ergebnisse stellte sie im zeitlichen Verlauf dar:
Sozioökonomische Nachteile stünden mit einer schlechteren Gesundheit der Mutter, mit mehr Frühgeburten und einem niedrigeren Geburtsgewicht in Verbindung, schreibt die Erstautorin. Dies zeigt sie anhand von Unterschieden beim Nikotinkonsum (12 Prozent in England, 6,5 Prozent in Schweden) und beim Körpergewicht der Mutter (Adipositas 20 versus 12,5 Prozent). Doch wie kommt es zu den großen Unterschieden? Auf den ersten Blick sind die Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukte Schwedens (47.400 Euro) und Großbritanniens (35.200 Euro) zu ähnlich, um den starken Effekt zu erklären. In ihrer Analyse verweist Zylbersztejn auf die extrem unterschiedliche Verteilung von Geldern. In der britischen Bevölkerung haben die untersten 20 Prozent sieben Mal weniger Einkommen als die obersten 20 Prozent. In Schweden liegt der Abstand beim Faktor vier.
Laut Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung (BPI) gleichen die Einkommensunterschiede in Deutschland eher Schweden als Großbritannien. Es kann also nicht nur am Geld liegen, dass Deutschland bei der Säuglingssterblichkeit nur im Mittelfeld liegt. Die Stiftung Kindergesundheit nennt viele Faktoren, von denen einige durch intensivere gynäkologische Beratung beeinflussbar wären, während andere in den Verantwortungsbereich der Eltern fallen:
Nicht alle der aufgelisteten Faktoren lassen sich in gleicher Weise beeinflussen. Trotzdem: Frauen mit Kinderwunsch und werdende Mütter müssen sich den genannten Risiken bewusst sein. Mit mehr Beratung lässt sich vielleicht die eine oder andere Patientin überzeugen, ihren Lebensstil zu ändern oder die Wahl der Klinik genau zu überdenken. Auf diese Weise können Gynäkologen dazu beitragen, Todesfälle zu verhindern.