In Deutschland stagniert die Zahl an Kindern oder Jugendlichen mit Behinderung auf niedrigem Niveau. Trotzdem arbeiten immer mehr Menschen in Behindertenwerkstätten. Dahinter verbirgt sich ein veritables Geschäft – und eine Möglichkeit, Statistiken zu frisieren.
Ende März kommentierte Andrea Nahles (SPD) aktuelle Arbeitsmarktzahlen: „Der Trend am Arbeitsmarkt entwickelt sich weiterhin sehr gut.“ Die Zahl der Beschäftigten bleibe hoch, sagt die Bundesarbeitsministerin. Ihre Datenbasis ist umstritten, seit Menschen in Behindertenwerkstätten oder ähnlichen Einrichtungen als berufstätig im klassischen Sinne gelten. Dieser sogenannte zweite Arbeitsmarkt wächst immer stärker, was sich nicht durch medizinische Gründe erklären lässt.
Schon im Jahr 2008 schlug das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Alarm. Ein Forschungsbericht ging der Frage nach, warum Zugangszahlen bei Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) derart rapide steigen. Eigentlich hatten Sozialforscher ganz andere Trends erwartet. Die con_sens GmbH prognostizierte im Jahr 2003, dass die Zahl der Werkstattbeschäftigten bis Ende 2010 auf einen Maximalwert von 254.000 Personen steige, es danach aber zu einer deutlichen Abnahme komme. Weit gefehlt: Der vermutete Gipfel von 254.000 Plätzen wurde nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) schon 2005 überschritten, ohne dass sich ein Ende des Trends absehen lässt. Im November 2015 schufteten laut Statistik 306.579 Werkstattbeschäftigte in 682 Hauptwerkstätten beziehungsweise 2.705 Betriebsstätten. Aus Sicht von Ärzten wäre eine ganz andere Entwicklung zu erwarten gewesen.
Hier zu Lande verändert sich die Zahl an jungen Menschen mit Schwerbehinderung über die Jahre kaum, berichtet das Statistische Bundesamt (DESTATIS). In der Altersgruppe von null bis vier Jahren waren 14.275 (2009), 14.194 (2011) sowie 13.928 Kinder betroffen. Gleichzeitig führen Ärzte immer seltener Schwangerschaftsabbrüche durch. So verringerte sich die Zahl an Aborten von 114.484 (2008) auf 99.237 (2015). Auf den zweiten Blick zeigen sich gegenläufige Trends. Im Bereich der medizinischen Indikation geht die Kurve klar nach oben – von 2.989 (2008) auf 3.879 (2015). Wissenschaftler sehen Trisomien als Grund, was auch mit dem steigenden Alter von Müttern in Zusammenhang gebracht wird. Zu diesem Schluss kommen Forscher bei der Auswertung ihrer EUROCAT-Studie. Das National Down Syndrome Cytogenetic Register aus Großbritannien berichtet seit Jahren von mehr Aborten aufgrund von Trisomien. Offizielle Statistiken gibt es für Deutschland nicht. Bleibt als Fazit, dass es aus diesen Gründen eigentlich weniger Menschen mit Behinderung geben müsste. Doch woher kommen all die Beschäftigten in WfbM?
Um das Phänomen zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf wirtschaftliche Hintergründe. „Werkstätten sind keine Erwerbsbetriebe, sondern Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation“, schreibt die BAG WfbM. „Nicht Produktion und Umsatz stehen im Vordergrund der Werkstattarbeit, sondern berufsfördernde, berufsbildende und solche Leistungen, die den behinderten Erwachsenen helfen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln.“ Diese sozialrechtliche Argumentation steht auf tönernen Füßen. Der Staat unterstützt jeden Werkstättenplatz mit etwa 13.800 Euro pro Jahr. Beschäftigte erhalten durchschnittlich 185 Euro im Monat. Sie haben bereits nach 20 Jahren in einer WfbM Anspruch auf Rente, die über eine fiktive Größe berechnet wird, nämlich 80 Prozent des durchschnittlichen Verdienstes aller Rentenversicherten. Mehrere Betriebe wachsen in diesem geförderten Umfeld immens, wie der Jahresbericht 2015 des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz zeigt: „Nach den veröffentlichten Jahresabschlüssen 2011 der Werkstattträger, die in der Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH geführt wurden, erwirtschafteten drei Träger Verluste von insgesamt 1,0 Mio. Euro und 13 Träger Überschüsse von zusammen mehr als 12 Mio. Euro. Die Gewinnrücklagen von 17 Werkstattträgern beliefen sich Ende 2011 auf insgesamt 202 Mio. Euro.“ Vielen Politikern im Bundesland fehlt mittlerweile das Verständnis. Sie stehen hinter Empfehlungen des Rechnungshofs, Vergütungen zu reduzieren, um Überschüsse abzubauen. Es geht aber nicht nur um Fördergelder, sondern um Chancen für benachteiligte Menschen, den individuell besten Weg einzuschlagen.
Hubert Hüppe (CDU), ehemals Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, kennt die Problematik nur allzu gut. Er kritisiert, viele Personen mit Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt würden davon abgehalten, diese auch zu ergreifen. Sein Lösungsvorschlag: „Für Menschen, die zum Beispiel in eine Werkstatt gehen müssen, würde ich das Budget für Arbeit einrichten. Mit diesem Geld könnten sie selbstverantwortlich schauen, ob sie in eine Werkstatt gehen wollen oder ob es nicht doch Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt.“ Inklusion ist momentan eher ein frommer Wunsch als eine gelebte Realität.