Kanadische Forscher sind der Meinung, dass Demenz und Altersdepression eng miteinander zusammenhängen. Aufgrund der gemeinsamen pathophysiologischen Ursachen seien sie keine voneinander unabhängigen Erkrankungen. Was bedeutet das für die Arbeit von Ärzten?
Kognitive Beeinträchtigungen sind Bestandteil von Altersdepressionen. Und depressive Symptome treten häufig bei einer Neurodegeneration, dem Funktionsverlust oder Untergang von Nervenzellen, auf. Deshalb verwundert es nicht, dass viele Mediziner vor einer Demenz zunächst eine Depression diagnostizieren. Diese Zusammenhänge erschweren es, die beiden Erkrankungen voneinander abzugrenzen. Sollten Ärzte der besonderen Beziehung zwischen Demenz und Depression bei ihrer Arbeit mehr Gewicht beimessen?
Das Team um Zahinoor Ismail vom Hotchkiss Brain Institute der Universität Calgary stellt eine Differenzierung zwischen Depression und Demenz in Frage. Sie schildern, dass Altersdepressionen in 54 % aller Fälle von leichten kognitiven Beeinträchtigungen begleitet werden. Andersherum werden neurodegenerative Erkrankungen zu 20 % von schweren und zu 27 % von leichten Depressionen begleitet. Dies führt dazu, dass bis zu 40 % der Demenzkranken mit Antidepressiva behandelt werden. In ihrem Review nennen sie zahlreiche Hinweise dafür, dass Demenz und Depression ähnliche pathophysiologische Ursachen haben, beispielsweise Entzündungen oder vaskuläre Veränderungen. In einer weiteren Studie werden weitere gemeinsame Risikofaktoren beider Erkrankungen genannt: soziale Isolation, Bildungsniveau, ein niedriger sozioökonomischer Status und andere medizinische Komorbiditäten.
Chronische Depressionen im Lebensverlauf können das Risiko insbesondere für vaskuläre Demenz erhöhen, wie eine Forschergruppe in ihrer Studie betont. Depressionen im jüngeren Alter steigern das Risiko für Demenz etwa auf das Doppelte. Bei rezidivierenden Depressionen wird geschätzt, dass das Risiko einer Demenz mit jeder Episode um 14 % steigt. Eine erstmalig auftretende Depression im Alter spiegelt dagegen eher ein prodromales Stadium der Demenz wider. Ein Merkmal schwerer Depressionen ist eine Hyperaktivität der Stressachse, auch Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse genannt. Sie führt zu einer Dysregulation bei der Ausschüttung von Glukokortikoiden. Die Folge: Hohe Cortisolspiegel haben dann eine Neurodegeneration zur Folge. So wird bei Alzheimer-Patienten mit hohen Cortisolkonzentrationen im Plasma ein rasanteres Fortschreiten der Erkrankung beobachtet. Ismail et al. spekulieren, „dass eine Vorgeschichte von schwerer Depression entweder die Hippocampusatrophie oder die Produktion von Amyloid-β und phosphoryliertem Tau-Protein initiieren oder beschleunigen kann, was das Risiko einer Demenz in der Zukunft erhöht.“ Auch Probleme bei der Hirndurchblutung müssen in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Denn zerebrovaskuläre Ereignisse können ebenso Depressionen und kognitive Beeinträchtigungen nach sich ziehen.
Bei Altersdepressionen auftretende signifikante kognitive Defizite, die nicht durch eine Neurodegeneration im Rahmen einer Demenz verursacht werden und eine Besserung bei Behandlung der Depression zeigen, werden oft als „depressive Pseudodemenz“ bezeichnet. Trotzdem sollte man diese kognitiven Defizite ernstnehmen: In einer deutsche Langzeitstudie kam man zu dem Ergebnis, dass diese kognitiven Beeinträchtigungen größtenteils auf eine beginnende Demenz hindeuten. Ihren Ergebnissen nach zeigten depressive Senioren ohne nachfolgende Demenz nur geringe bis mittlere kognitive Defizite, während depressive Teilnehmer bei binnen fünf Jahren auftretender Demenz mittelstarke bis ausgeprägte kognitive Defizite aufwiesen. Besonders Beeinträchtigungen des Lernens, der Erinnerung sowie der Orientierung waren mit einem erhöhten Risiko für eine Demenz assoziiert. Das Forschungsteam schlussfolgert deshalb: „Deutliche kognitive Beeinträchtigungen im Rahmen einer Altersdepression sollten nicht als ,depressive Pseudodemenz‘ abgetan werden, sondern sie erfordern besondere klinische Aufmerksamkeit als mögliches Zeichen einer beginnenden Demenz.“ Dr. Claudia Dallmann kommt ebenfalls zu diesem Schluss. Die Oberärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Alzheimer Therapiezentrum Ratzeburg betont, dass insbesondere eine beginnende Demenz schwierig von einer Altersdepression abzugrenzen ist: „Gerade im Frühstadium einer Demenz [treten] auch depressive Symptome auf, weil die Betroffenen den voranschreitenden Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten bemerken und voller Angst, Sorge und Traurigkeit die zunehmenden Einschränkungen erleben.“
Als „verschwisterte“ Erkrankungen würde Dr. Oliver Rosenthal Demenz und Depression nicht bezeichnen. Er ist leitender Arzt der Abteilung Seelische Gesundheit im Alter im Klinikum Wahrendorff. Die genaue Abgrenzung beider Erkrankungen hält er für sehr wichtig. „Das gemeinsame Auftreten einer depressiven Störung und einer kognitiven Beeinträchtigung sollte immer eine große diagnostische Aufmerksamkeit nach sich ziehen, um frühzeitig eine geeignete Therapie einleiten zu können. Ein Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten ist in der Hausarztpraxis eine häufig vorgetragene Beschwerde,“ betont er. Und warnt deshalb davor, zu voreilig Schlüsse zu ziehen: „Nicht immer steckt dahinter eine Erkrankung beziehungsweise eine Demenz. Daher müssen die diagnostischen Maßnahmen besonders sorgfältig durchgeführt werden. Diese beginnen grundsätzlich mit einer ausführlichen Befragung des Betroffenen, aber auch der Angehörigen. Hinzu kommen internistische und neurologische körperliche Untersuchungen und eine sogenannte neuropsychologische Untersuchung. Dazu gehören Tests, die vorhandene kognitive Defizite aufzeigen können. Weiterhin gehören eine Laboruntersuchung sowie die Bildgebung des Gehirns durch eine Computer- oder eine Kernspintomographie dazu.“
Bei der Früherkennung demenziell erkrankter Menschen nimmt die hausärztliche Versorgung eine zentrale Rolle ein. Eine möglichst frühzeitige Diagnostik und Diagnosestellung ist eine wesentliche Voraussetzung für die leitliniengerechte Behandlung. Laut Rosenthal sollte eine Basisdiagnostik durchgeführt werden, „sobald sich alltagsrelevante kognitive Defizite entwickelt haben, also im Rahmen eines leichten dementiellen Syndroms. Hierzu gehört u.a. ein neuropsychologisches Screening, beispielsweise durch einfache, orientierende Kurztests wie den Mini-Mental-Status-Test oder den DemTect. Sollte sich in der Frühdiagnostik der Verdacht auf eine dementielle Entwicklung erhärten, so ist eine weiterführende ausführlichere Diagnostik bei einem Facharzt oder in einer Gedächtnisambulanz zu empfehlen.“ Einige Symptome können bei Altersdepression und Demenz in unterschiedlicher Ausprägung auftreten und dadurch Angehörigen und Ärzten als Orientierungshilfe dienen:
Prof. Gerhard W. Eschweiler, Oberarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen und Leiter der Geschäftsstelle des Geriatrischen Zentrums, meint: „Der Mini-Cog unterscheidet Demenz von Nicht-Demenz mit einer Trennschärfe von 87 %. Er unterscheidet Demenz von Depression mit 78 %. Er ist aber nicht besonders spezifisch bezüglich der Art der Demenz.“ Beim Mini-Cog Test wurde ein Patient gebeten, eine Uhr zu zeichnen, die die Zeit 2:30 anzeigt. Aufeinanderfolgende Ergebnisse zeigen eine fortschreitende Verschlechterung der Musterverarbeitungsfähigkeit des Patienten zu leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI, early AD) und schwerer Alzheimer-Krankheit (Late AD). © M. Mattson (2014), doi:10.3389/fnins.2014.00265.
Eine Altersdepression ist gut behandelbar – vorausgesetzt, sie wird richtig und frühzeitig diagnostiziert. Neben der medikamentösen Therapie stehen psychotherapeutische Behandlungen und nicht-medikamentöse Therapieangebote zur Verfügung. Bei der Demenz ist die Situation deutlich komplizierter. Die Bedürfnisse von Menschen, die an einer Demenz erkranken, sind komplex und verändern sich mit dem Fortschreiten der Erkrankung. Entsprechend vielfältig sind die Therapieansätze: Neben Arzneimitteln spielen nicht-medikamentöse Behandlungen eine wichtige Rolle für die Therapie. Rosenthal hat die Erfahrung gemacht, dass gerade diese Verfahren Menschen mit einer Demenzerkrankung zu einer subjektiv empfundenen verbesserten Lebensqualität verhelfen können. „Da für den überwiegenden Teil der Demenzen noch keine Kausaltherapie zur Verfügung steht, wird der Verbesserung der Versorgungssituation heute ein besonderer Stellenwert beigemessen,“ betont er. Die Umsetzung einer gut funktionierenden Versorgung ist seiner Ansicht nach problematisch. „Für die Durchführung stehen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Um die Versorgung der wachsenden Zahl von Demenzpatienten möglichst optimal zu gestalten, sollte die Versorgungsforschung der Fragestellung einer sinnvollen Nutzung der vorhandenen Versorgungsstrukturen nachgehen, damit zukünftig die vorhandenen Leistungsangebote in der Breite genutzt und individuell an den Betroffenen und das Stadium seiner Erkrankung angepasst werden können.“
2002 wurde Memantin als letzter neuer Alzheimer-Wirkstoff zugelassen, und für die Therapie der Demenz stehen nur symptomatisch wirkende Medikamente zur Verfügung. Daher sind insbesondere vor dem Hintergrund der alternden Bevölkerung die Hoffnungen groß, dass zukünftig krankheitsmodifizierende oder kausale Arzneimitteltherapien verfügbar werden. Das Scheitern zahlreicher klinischer Studien hat in der letzten Zeit jedoch eher zu Ernüchterung geführt. Anfang 2018 gab Pfizer den Rückzug aus der Alzheimer-Forschung bekannt, eine herbe Enttäuschung für Ärzte und Betroffene. Diese Stagnation hat auch dazu geführt, die bisherigen Hypothesen der Entstehung einer Demenz in Frage zu stellen. In klinischen Studien wird vermehrt das Ziel gesetzt, Möglichkeiten zur Früherkennung einer Demenz zu finden. Dadurch würde man auch die Pathogenese dieser Erkrankung besser verstehen. Rosenthal hofft, dass „die Möglichkeiten einer Früherkennung dann auch eine pharmakologische Intervention in frühen Stadien der Erkrankung nach sich ziehen könnten.“