Alleine durch Feuerwerkskörper erleiden jährlich 8.000 Deutsche ein akustisches Schalltrauma. Auch eine heftige Ohrfeige kann der Auslöser sein. In manchen Fällen kommt es zum dauerhaften Hörverlust. Mit einer simplen Methode konnter dieser nun teilweise verhindert werden.
Das menschliche Gehör reagiert auf extreme Lautstärke sensibel. Kurze, sehr laute Geräusche ab einem Schallpegel von etwa 140 Dezibel können das Gehör dauerhaft beeinträchtigen. Sehr laute Konzerte, eine Explosion oder Feuerwerkskörper können zu einem akuten Schalltrauma führen, zum Beispiel in Form eines Knalltraumas oder eines Explosionstraumas. Mehr als 8.000 Menschen sind nach Silvester jährlich von Verletzungen des Innenohrs durch den Knall von Böllern und Raketen betroffen. Bei rund einem Drittel ist der Hörschaden irreparabel – besonders häufig, wenn nicht frühzeitig behandelt wird. Es kann eine gewisse Schwerhörigkeit oder ein Tinnitus bestehen bleiben.
Ein Forscherteam um den HNO-Experten John Oghalai von der Keck School of Medicine an der University of Southern California, USA, hat nun eine Methode entdeckt, die einen dauerhaften Hörverlust nach extrem lauten Geräuschen zumindest teilweise verhindern könnte. Bislang war der Mechanismus der Gehörschädigung nur in Teilen entschlüsselt. Deswegen untersuchten die Wissenschaftler an Mäusen im Detail, wie ein Gehörverlust durch extrem laute Geräusche entsteht. Sie verwendeten dazu einen winzigen optischen Sensor, mit dem sie das Innere der Cochlea im Tierexperiment beobachten konnten.
Dabei erkannten sie zwei Dinge: Nach einem extrem lauten Geräusch sterben Haarzellen im Innenohr ab. Darüber hinaus füllt sich das Innenohr übermäßig mit Flüssigkeit, der sogenannten Endolymphe, was zum Absterben von Nervenzellen (Neuronen) führt, die eigentlich akustische Signale ans Gehirn übermitteln. Die Endolymphe ist eine kaliumreiche Flüssigkeit, die für das Hören notwendig ist. Kommt es jedoch zu einer krankhaften Zunahme dieser Flüssigkeit, werden die Kammern und Kanäle des Hörorgans übermäßig gedehnt. „Den ansteigenden Druck durch die Ansammlung von Flüssigkeit im Innenohr kennen viele Menschen von einem lauten Konzert“, erläutert Oghalai. „Wenn man das Konzert verlässt, hat man häufig einen Druck auf den Ohren und vielleicht auch ein Klingeln oder ein anderes Geräusch im Ohr.“
In ihrer Untersuchung konnten die Forscher zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen der Ansammlung von Flüssigkeit im Innenohr und dem Absterben von Neuronen besteht. „Selbst wenn einige Haarzellen nicht geschädigt und noch funktionsfähig sind, wird der Schall nicht ans Gehirn übertragen, wenn die Haarzellen nicht mit einer intakten Nervenzelle verbunden sind“, erläutert Oghalai. Weiterhin stellte das Forscherteam fest, dass das Absterben der Haarzellen unmittelbar nach dem lauten Geräusch stattfand und nicht umkehrbar war. Die Flüssigkeit sammelte sich jedoch erst in einem Zeitraum von etwa drei Stunden nach dem lauten Geräusch an, sodass die Nervenzellen erst mit einer zeitlichen Verzögerung absterben. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass sich genau in diesem Zeitfenster eine Möglichkeit bieten könnte, behandelnd einzugreifen und den Verlust von Nervenzellen zu verhindern.
Um die Ansammlung der kaliumhaltigen Endolymphe zu verringern, injizierten Oghalai und sein Team drei Stunden nach dem lauten Geräusch eine salz- und zuckerhaltige hypertonische Lösung durch das Trommelfell ins Mittelohr. Auf diese Weise erzeugten sie einen osmotischen Gradienten zwischen den mit Endolymphe gefüllten Bereichen im Innenohr und der umgebenden Perilymphe. Dadurch wurde die Flüssigkeit im Innenohr verdrängt. Angetrieben durch den osmotischen Druck floss sie von dem Innenohr in Richtung der applizierten hypertonischen Lösung. Die schädlichen Auswirkungen der hohen Menge an Endolymphe konnten so eingedämmt werden. In der Studie konnte durch die Methode letztendlich 45 bis 64 Prozent des Nervenzellverlusts verhindert werden. „Dies könnte also ein geeigneter Behandlungsansatz sein, um das Hörvermögen nach lauten Geräuschen so gut wie möglich zu bewahren“, sagt Oghalai. Seiner Meinung nach könnte die neue Behandlungsmethode für verschiedene Anwendungen in Frage kommen. „Ich könnte mir vorstellen, dass Soldaten eine kleine Flasche mit dieser Lösung bei sich tragen, um sie nach extrem lauten Geräuschen, etwa von einer Straßenbombe, einzusetzen und so einem Hörverlust vorbeugen zu können“, sagt Oghalai. Ob Betroffene von einer selbstständigen Anwendung der Flüssigkeit profitieren, hänge davon ab, ob das Trommelfell durch die Schallwellen eingerissen wurde. „War die Lautstärke nicht ganz so hoch, kann es auch sein, dass das Trommelfell intakt bleibt. Dann müsste ein Arzt die Flüssigkeit ins Mittelohr injizieren.“ Der HNO-Arzt Tobias Müller aus Ahrensburg hält den Ansatz der US-Forscher für interessant, hat im Hinblick auf die Umsetzbarkeit aber Bedenken: „Drei Stunden nach Ereignis ist eine sehr kurze Zeit. In den ersten Stunden ist zudem die Spontantheilungsrate am höchsten. Eine fachkundige Diagnostik vor einer Therapie wäre wie immer sinnvoll, aber in Kriegssituationen oder in anderen akuten Situationen kaum durchführbar.“ Eine Selbstapplikation derartiger Tropfen in den Gehörgang könne man laut Müller vermutlich bedenkenlos durchführen: Ein Risiko sei hierbei nicht zu erwarten. „Ein Trauma durch Lärm wie auf einem Rockkonzertwürde wahrscheinlich keine Perforation verursachen, eine Explosion, ein Schlag auf das Ohr oder ähnliches schon eher, vor allem wenn anschließend Blut aus dem Ohr läuft“, sagt Müller. Die Injektion durch das Trommelfell sollte dann nach entsprechender Diagnostik nur durch einen spezialisierten Arzt erfolgen.
Bislang ist Cortison als Tablette, Infusion oder als Lokaltherapie das Mittel der Wahl behandelnder Ärzte bei einem akuten Schalltrauma. Die Ergebnisse sind in vielen Fällen gut, nicht immer kann damit aber eine vollständige Heilung erzielt werden und es bleiben Hörschäden zurück. „Man sollte die neue Theorie weiterverfolgen und aussagekräftige Studien vorlegen, die dann mit den unterschiedlichen Cortison-Therapien verglichen werden sollten“, so HNO-Arzt Müller. Oghalai und sein Team wollen den neuen Behandlungsansatz nun genauer untersuchen und planen weitere Studien, um die Prozesse von der Ansammlung von Flüssigkeit im Innenohr bis zum Absterben von Nervenzellen noch detaillierter zu verstehen. Anschließend sollen klinische Studien folgen, in denen die Wirksamkeit bei Menschen überprüft werden soll.