Bei Patienten mit hohem Blutdruck sind Ärzte alarmiert. Anders ist es bei Hypotonikern. Sie werden von Ärzten oft übersehen. Dabei zeigen Studien, dass diese Patienten häufiger an Depressionen und Suizidgedanken leiden als Menschen mit normalem oder hohem Blutdruck.
Je niedriger der Blutdruck, desto besser ist es für das Herz und die Gefäße – jedenfalls solange sich der Blutdruck noch deutlich von der Nulllinie unterscheidet und keine Herzerkrankung oder Hormonproduktionsstörung zugrunde liegen. Behandelt wird eine Hypotonie daher erst, wenn Symptome wie Schwindel und Ohnmachtsanfälle auftreten. Dabei wird eine Gefahr übersehen, behaupten koreanische Wissenschaftler der Universität in Seoul. Sie haben herausgefunden, dass Menschen mit niedrigem Blutdruck häufiger ernsthaft über Selbstmord nachdenken als Menschen mit normalem oder hohem Blutdruck.
Für ihre Querschnittsstudie verwendeten Kyung-in Joung und Sung-il Cho die Daten einer koreanischen Gesundheits- und Ernährungsstudie (Korean National Health and Nutrition Examination Survey) aus den Jahren 2010 und 2013, an der mehr als 23.000 Menschen zwischen 19 und 101 Jahren teilgenommen hatten. In die Studie der beiden Koreaner wurden jedoch nur diejenigen eingeschlossen, die einen normalen (systolischer Blutdruck 100 - 120 mmHg) oder niedrigen Blutdruck (< 100 mmHg) hatten. Dies traf auf etwa 10.500 der Personen zu. Sie wurden gefragt, ob sie im letzten Jahr ernthaft über einen Suizid nachgedacht haben. Insgesamt dachten 11 % aller Teilnehmer darüber nach, wobei Frauen mit 13 % etwas häufiger Selbstmordgedanken hatten im Vergleich zu Männern (8 %). Lag der systolische Blutdruck unter
Nach Abgleich unter anderem gegen Geschlecht, Alter, Haushaltseinkommen und Alkoholkonsum, ergab sich eine Odds Ratio von 1,29 bzw. 1,44 und 1,71 für systolische Drücke unter 100 bzw. 95 und 90 mmHg. Das heißt, je niedriger der Blutdruck, desto höher ist die Chance, dass Probanden über Suizid nachdenken. Der diastolische Druck der Hypotonie-Gruppe lag im Mittel bei 63 mmHg, sein Einfluss auf das Auftreten von Selbstmordgedanken wurde jedoch nicht weiter untersucht.
„Überraschend ist das Ergebnis der koreanischen Studie nicht,“ so der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Göttingen, Prof. Dr. Herrmann-Lingen. Der Mediziner befasst sich schon seit längerer Zeit damit, in welcher Weise sich Blutdruck und psychisches Befinden gegenseitig beeinflussen. Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Göttingen © Prof. Dr. C. Herrmann-Lingen So haben Herrmann-Lingen und sein Team beispielsweise festgestellt [Paywall], dass sich Leute mit einem hohen Blutdruck tatsächlich psychisch besser fühlen und weniger unter depressiven Symptomen, dem größten Risikofaktor für einen Suizid, leiden als Normotoniker – ein Ergebnis, das ganz gut zu der Studie der beiden Koreaner passt. Denn wenn sich Menschen mit erhöhtem Blutdruck besser fühlen, wäre es einleuchtend, dass Menschen mit niedrigem Blutdruck sich umgekehrt schlechter fühlen als Menschen mit normalen Blutdruck und dadurch auch häufiger an Suizid denken. Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass Herrmann-Lingen und seine Kollegen damals auch Menschen mit besonders niedrigem Blutdruck untersucht und keinen zusätzlichen negativen Effekt gefunden hatten. „Wir haben damals allerdings Patienten untersucht, während es sich bei der Studie der Koreaner um eine Bevölkerungsstichprobe handelt,“ gibt der Psychosomatiker zu bedenken und ergänzt: „Bei der koreanischen Studie handelt es sich um rein statistische Zusammenhänge, die keine Aussagen zur Kausalität erlauben. Nun gilt es abzuwarten, ob andere unabhängige Gruppen das Ergebnis reproduzieren können.“
Die Wissenschaftler Kyung-in Joung und Sung-il Cho sind dabei nicht die ersten, die einen Zusammenhang zwischen Hypotonie und mentalen Gesundheitsproblemen vermuten. 2010 beispielsweise fanden zwei Prävalenzstudien (1[Paywall], 2[Paywall]) eine Assoziation zwischen niedrigen Blutdruck und depressiven Symptomen bei älteren Patienten. Zudem soll eine Assoziation zwischen einer Hypotonie und kognitiven Beeinträchtigungen, wie z. B. Demenz bestehen – allerdings ist hier die Datenlage gemischt. Eines der Teams, die einen Zusammenhang fanden, waren schwedische Wissenschaftler um Qiu. Im Jahr 2003 hatten die Forscher 1200 Teilnehmer sechs Jahre lang beobachtet. Während dieser Zeit erkrankten etwa 300 Menschen an Demenz und ca. 250 an Alzheimer. Menschen mit einem diastolischen Druck von 65 mmHg und weniger hatten dabei ein adjustiertes relatives Risiko von 1,7 für Alzheimer und von 1,5 für Demenz. Hohe diastolische oder niedrige systolische Werte dagegen erhöhten das Alzheimer- oder Demenzrisiko nicht. Menschen mit einem systolischen Wert von mehr als 180 mmHg dagegen hatten, verglichen mit den Studienteilnehmern aus der 141 bis 180 mmHg-Gruppe, ein relatives Risiko von 1,5 für Alzheimer und ein relatives Risiko von 1,6 für Demenz.
Wie genau ein niedriger Blutdruck mit einer Depression zusammenhängt, ist noch unbekannt. Infrage kommen Faktoren wie z. B. eine schlechtere Durchblutung des Gehirns oder das Neuropeptid Y, welches sowohl bei einer Hypotonie als auch bei einer Depression verstärkt exprimiert wird. Neuropeptid Y ist u.a. an der Steuerung von Stress- und Angstreaktionen sowie an der Regulation des Gefäßwiderstands beteiligt. Herrmann-Lingen hat noch zwei andere mögliche Erklärungen. „Eine physiologische Erklärung wäre, dass Menschen, die ihre Emotionen nicht gut wahrnehmen können und deswegen einen höheren Blutdruck haben, ihre depressiven Symptome weniger spüren,“ so der Psychosomatiker. Die Idee hinter dieser Vorstellung sei folgende: Die Blutdruckregulation findet im Zwischenhirn und im Hirnstamm unter der Kontrolle von bestimmten Großhirnarealen wie z. B. dem präfrontalen Kortex statt. Diese Großhirnareale hängen aber auch mit der Verarbeitung von Emotionen zusammen. „Ist hier die Emotionsverarbeitung jedoch beeinträchtigt, dann kann möglicherweise eine Stressreaktion, die zu hohem Blutdruck führt, nicht ausreichend abgefangen werden,“ erklärt Herrmann-Lingen. „Vorstellbar ist aber auch die umgekehrte Richtung. So könnte bei Menschen, die Emotionen – auch negative – deutlicher wahrnehmen, der Blutdruck besonders stark heruntergeregelt werden.“ Denkbar wäre aber auch, dass der Rückkopplungsmechanismus des Blutdruckes involviert ist: Stress führt erst einmal zu einer Aktivierung des Sympathikus, was u. a. den Blutdruck steigen lässt. „Damit das Ganze aber nicht aus dem Ruder läuft, hat der Körper eine Rückkopplungsbremse eingebaut: den Barorezeptor-Reflex“, erklärt Herrmann-Lingen. „Steigt der Blutdruck an, werden bestimmte beruhigende Aspekte wie der Nervus vagus aktiviert, um die Stressreaktion wieder zu beenden“. Bei sinkendem Blutdruck würde der Barorezeptor-Reflex gestoppt und das Stresslevel steigt eventuell wieder an. „Dieses vermehrte Stresslevel unter fehlender Stimulation des Barorezeptor-Reflexes kann sich auch auf der bewussten Ebene auswirken, indem man sich dann einfach schlechter fühlt,“ vermutet Herrmann-Lingen.
Doch welche Auswirkungen hat das Ergebnis der Studie auf den Behandlungsalltag von Ärzten? „Dass man eine prozentual leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Suizid hat, ist natürlich ein statistisch bedeutsames Ergebnis. Eine Bedeutung für die unmittelbare Patientenbehandlung sehe ich allerdings nicht,“ sagt Herrmann-Lingen und ergänzt: „aus den Daten ist sicherlich nicht abzuleiten, dass man jeden Patienten mit niedrigem Blutdruck danach fragen sollte, ob er Selbstmordgedanken habe. Allerdings ist es sinnvoll, bei jedem Patienten, der mit unspezifischen Beschwerden, wie z. B. einem niedrigen Blutdruck, zu einem Arzt geht, zu überprüfen, ob dahinter vielleicht eine Depression oder Angststörung steckt.“ Denn depressive Menschen sind häufig antriebslos, bewegen sich nicht und haben keinen Appetit – alles Symptome, die den Blutdruck zu senken vermögen. Ein niedriger, eigentlich ungefährlicher Blutdruck kann insbesondere Menschen mit einer Angsterkrankung beunruhigen. Sie suchen einen Arzt auf, da sie befürchten, „es könne etwas mit ihrem Herzen sein“. Der Psychosomatiker Herrmann-Lingen rät Ärzten daher, nicht nur Messwerte, sondern ganze Patienten zu behandeln. Die Anamnese sollte dabei sowohl das psychische Umfeld, die psychische Befindlichkeit und das allgemeine Lebensumfeld umfassen. „Dann werden die meisten Probleme relativ schnell klar,“ ist sich der Mediziner sicher.