Deutschlands Apotheker verteidigen ihr Fremd- und Mehrbesitzverbot mit allen Mitteln. Nun liefert die britische Kette Boots neue Argumente wider Willen: Manager sollen Angestellte genötigt haben, möglichst viele Medikationsanalysen abzurechen und Prinzipien über Bord zu werfen.
Beim Thema Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) hat Deutschland nicht gerade einen Spitzenplatz inne. Patienten mit drei oder mehr Pharmaka in Dauertherapie erhalten erst ab Oktober 2016 regelmäßig Medikationspläne zur Vorlage beim Arzt. „Apotheker sind von Anfang an einbezogen und bei Änderungen der Medikation auf Wunsch des Versicherten zur Aktualisierung verpflichtet“, schreibt das Bundesgesundheitsministerium. Voraussichtlich ab 2018 soll der Medikationsplan auch elektronisch via Gesundheitskarte abrufbar sein. Auf strukturierte Arbeiten, wie sie bei der Medikationsanalyse oder beim Medikationsmanagement erfolgen, warten Patienten nach wie vor. Boots-Filiale in Belfast. Apotheker werfen der Kette Abrechnungsbetrug in etlichen Fällen vor. ©Ardfern / Wikipedia, CC BY SA Der National Health Service (NHS), Großbritanniens Gesundheitssystem, hat zwar nicht den allerbesten Ruf. Immer wieder kritisieren Versicherte lange Wartezeiten. Dennoch gibt es innovative Aspekte. Sogenannte Medicine Use Reviews (MURs) sind längst in der Regelversorgung angekommen. Hier handelt es sich nicht nur um Medikationsanalysen. Apotheker sprechen alle Präparate mit Laien durch, erklären deren Nutzen oder geben Hinweise zur Einnahme. Ziel ist, durch Beratung die Therapietreue zu verbessern. Als Einschlusskriterien hat der NHS vier oder mehr Präparaten als Dauermedikation vorgesehen. Wer besonders riskante Pharmaka benötigt, kommt ebenfalls in den Genuss apothekerlicher Leistungen. Bleiben noch Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen oder Herzleiden. Wer gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kann auch pharmazeutischen Rat einholen. Kollegen erhalten 28 Pfund, umgerechnet 35 Euro, pro Kopf und Jahr. Sie sind gesetzlich verpflichtet, maximal 400 Patienten pro Betriebsstätte zu betreuen. Dieser Aspekt wurde Boots jetzt zum Verhängnis.
Manager der Apothekenkette sehen in MURs ein veritables Zusatzgeschäft, das sich ohne allzu großen Aufwand abwickeln lässt. Unter dem vielsagenden Titel „How Boots went rogue“ („Wie Boots zum Schurken wurde“) rechnet das britische Blatt „The Guardian“ jetzt mit der Kette ab. Der Vorwurf: Manager hätten angestellte Apotheker unter Druck gesetzt, damit sie pro Filiale immer 400 Patienten MURs anbieten – egal, ob sie zur Zielgruppe des NHS gehören oder nicht. „Milking the NHS“ (den NHS melken) kursiert seither als geflügeltes Wort in der britischen Presse. Mehr und mehr Apotheker melden sich zu Wort. Ein Kollege wird mit den Worten zitiert, er habe jedes Mal angst, sobald Boots-Manager seine Filiale betreten – nicht ohne Grund: Herald Scotland wurden E-Mails eines nicht näher genannten Managers von Boots zugespielt. Darin heißt es: „(...) wir müssen unser Ziel, nämlich 400 MURs pro Filiale, aus zwei Gründen erreichen: 400 MURs sind ein Maß für exzellente Patientenversorgung. Das Unternehmen macht 28 Pfund Profit pro MUR. Jede nicht ausgeführte MUR bedeutet also 28 Pfund Verlust.“ Um diese Richtschnur zu erreichen, waren Managern und Pharmazeuten alle Wege recht. Häufig erhielten Patienten MURs, die eigentlich keinen Anspruch gehabt hätten. In einem Fall nahm der gesunde Apotheker seine Medikation unter die Lupe, um 28 Pfund abzurechnen. Kein Wunder: Bei 2.500 Boots-Filialen und 400 MURs pro Betriebsstätte muss der NHS jährlich 30 Millionen Britische Pfund (37 Millionen Euro) berappen. Damit ließ es Boots aber nicht bewenden.
Um den eigenen Gewinn zu maximieren, spart die Kette zunehmend an Fachkräften, wie mehrere Filialleiter berichten. Darunter leidet letztlich die Qualität. „Ich mache mir große Sorgen um Fehler bei der Arzneimittelabgabe“, erzählt ein Apotheker. Und ein Kollege ergänzt: „Letztes Jahr hat mich die Managerin aufgefordert, allein in einer stark frequentierten Filiale zu arbeiten.“ Dies sei in Abstimmung mit ihren Vorgesetzten geschehen. Als der Apotheker mögliche Risiken ansprach, hieß es lapidar, er würde Patientensicherheit als Grund vorschieben, um den Job nicht zu machen. Eine weitere Mail zeigt, dass selbst MURs kritisch zu bewerten sind. Im Tagesgeschäft fehle oft die Zeit, Medikamente systematisch zu erfassen, Recherchen zu betreiben und Details mit Patienten zu besprechen, kritisiert ein Kollege gegenüber „The Guardian“. Sein Fazit: „Uns fehlt einfach die Zeit.“ Sind viele MURs also Muster ohne Wert? Das wird sich zeigen, denn jetzt ermittelt das General Pharmaceutical Council als Aufsichtsbehörde.
Annonce aus dem Jahr 1911: Früher präsentierte sich Boots als sozialer Konzern. © Wikipedia, CC0 Apotheker hier zu Lande sehen den Skandal mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie beharren seit Jahren auf ihrem Fremd- und Mehrbesitzverbot. Wie sich der traditionsreicheKonzern aus Großbritannien gewandelt hat, zeigt ein kurzer Abriss aus der Firmengeschichte. John Boot (1815 bis 1860) berief sich als Gründer auf ethisch hohe Werte. Sein Ziel war, alle Patienten bestmöglich zu versorgen. Die erste Betriebsstätte entstand 1849. Mehr als 150 Jahre später verschmolzen Boots und Alliance UniChem zu Alliance Boots. Der neue Konzern wurde vom Finanzinvestor Kohlberg Kravis Roberts & Co (KKR) und vom Alliance Boots-Großaktionär Stefano Pessina für 11,1 Milliarden Pfund geschluckt. Analysten bewerteten den Deal als „größte Kapitalmaßnahme, die ein Finanzinvestor in Europa getätigt hat“. Anfang 2012 übernahm Walgreens 45 Prozent der Anteile für 6,7 Milliarden US-Dollar, und Mitte 2014 die restliche Tranche für 5,29 Milliarden US-Dollar. Boots ist zum reinen Investitionsobjekt geworden, das möglichst hohe Dividenden erbringen soll.