Bei Rückenschmerzen setzen Ärzte auf bildgebende Verfahren und verordnen Analgetika. Genau das sollten sie vermeiden, schreiben Autoren in einer Lancet-Reihe. Was Orthopäden stattdessen tun sollten, verraten sie nicht – ein Lehrstück aus dem Elfenbeinturm.
Fast jeder hat sie irgendwann in seinem Leben: Rückenschmerzen – vor allem im Bereich der Lendenwirbelsäule. Solche tiefsitzenden Rückenschmerzen oder Kreuzschmerzen betreffen etwa 540 Millionen Menschen weltweit und sind damit laut einer Studie die Hauptursache für krankheitsbedingte Beeinträchtigungen. Und sie werden immer häufiger – vor allem in den weniger entwickelten Ländern. Eine Artikelserie in der Fachzeitschrift „The Lancet“ weist nun darauf hin, dass bei solchen Rückenschmerzen häufig unnötige diagnostische Maßnahmen und Behandlungen durchgeführt werden – trotz aktueller Leitlinien, und obwohl diese Interventionen hohe Kosten für das Gesundheitssystem bedeuten. So werden in weniger entwickelten Ländern häufig Bettruhe und Schonung empfohlen, was unnötig ist. Während in Ländern mit hohem Einkommen gerne bildgebende Verfahren, Schmerzmittel – oft auch Opiate – und Operationen zum Einsatz kommen, die nicht notwendig wären. Was Ärzte alternativ unternehmen sollten, verraten die Artikel nicht.
Dr. Tobias Weigl, der als Arzt täglich mit Patienten mit Rückenschmerzen spricht, hat sich die Zusammenfassungen angesehen. Er ist eher enttäuscht vom Lancet-Konvolut, da es „in keiner Weise neue Erkenntnisse“ gebe. „Auch die Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) zur Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen spiegelt diese Erkenntnis bereits wider.“ Als Kollege aus der Praxis sieht er zwei große Herausforderungen, die sich auch nach der Lancet-Serie nicht in Wohlgefallen auflösen:
Damit bleibt die Lancet-Serie eine akademische Fingerübung mit wenig Erkenntnisgewinn für niedergelassene Mediziner, entspricht aber dem Zeitgeist. Initiativen wie „Choosing Wisely“ („Klug entscheiden“) erarbeiten über alle Indikationen hinweg Listen mit aus Expertensicht sinnlosen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen. Bei nicht spezifischer Kreuzschmerzen bringen Verbote allein aber nichts.
Dazu ein Blick auf die Papers: Kreuzschmerzen hätten nur in wenigen Fällen eindeutige Ursachen, schreiben die Autoren im ersten Beitrag. Deshalb sollte eine aufwändige bildgebende Untersuchung nur durchgeführt werden, wenn es Warnhinweise auf eine ernsthafte Erkrankung gebe oder die Schmerzen länger als sechs Wochen anhielten, betonen die Forscher im zweiten Artikel. Außerdem sollten Ärzte bei leichten Schmerzen keine Medikamente verordnen. Opiate lehnen die Experten bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen wegen schädlicher Wirkungen ab. Auch Wirbelsäulenoperationen halten sie wegen geringer Effekte nur in wenigen Fällen für hilfreich. „Es ist natürlich verständlich, dass manche Ärzte sich nun hilflos fühlen“, sagt Jan Hartvigsen von der University of Southern Denmark, einer der Autoren der Lancet-Serie.
Wie soll man als Arzt nun also vorgehen? Zunächst sei es wichtig, zu überprüfen, ob eine ernsthafte Erkankung, sprich „Red Flags“, hinter den Kreuzschmerzen stecken könnte. Dies sind in erster Linie Wirbelbrüche, Tumoren, Infektionen, eine entzündlich-rheumatische Erkrankung und in seltenen Fällen eine massive Quetschung des unteren Rückenmarks (Cauda-Equina-Syndrom), zum Beispiel durch einen Bandscheibenvorfall. „Vorangegangene Verletzungen bei älteren Menschen können auf eine Wirbelverletzung, frühere Tumorerkrankungen, auf einen Tumor der Wirbelsäule und Schmerzen oder morgendliche Steifigkeit der Wirbelsäule oder auf eine entzündlich-rheumatische Wirbelsäulenerkrankung hinweisen“, ergänzt Joachim Sieper, Rheumatologe an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und einer der Autoren des ersten Lancet-Beitrags. „Es ist wichtig, Allgemeinärzte und Orthopäden besser über die Warnsignale für mögliche schwerwiegende Erkrankungen bei Rückenschmerzen zu informieren.“ Gleichzeitig sollten sie wissen, wann besser nichts zu unternehmen ist.
„Um 'Red Flags' zu erkennen, sind zunächst keine aufwändigen bildgebenden Untersuchungen notwendig“, sagt Bernd Kladny, Chefarzt der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie an der Fachklinik Herzogenaurach und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). „Stattdessen sollte sich der Arzt für den Patienten Zeit nehmen, mit ihm sprechen und ihn sorgfältig untersuchen – also zum Beispiel den Rücken anschauen und auch anfassen.“ Dass auf Bildgebung verzichtet werden sollte, hat laut Hartvigsen folgenden Grund: „Oft findet man auch bei Menschen, die nie Rückenschmerzen hatten, in der Bildgebung Auffälligkeiten.“ Ob diese Anomalien mit Schmerzen in Verbindung stehen, ist nicht gesagt. Kladny zufolge verschwinden Rückenschmerzen die zum ersten Mal auftreten und keine „Red Flags“ haben, mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 bis 80 Prozent ohne ärztliches Zutun innerhalb eines Monats. Halten die Beschwerden länger als vier bis sechs Wochen an, verschlechtern sie sich oder kommen weitere Symptome hinzu, sollten Patienten unbedingt wieder zum Arzt kommen.
Was kann der Arzt also Patienten mit nicht-spezifischen Kreuzschmerzen nun raten? „Die Betroffenen sollten sich regelmäßig bewegen, weniger sitzen und ihre bisherigen Aktivitäten beibehalten – also auch weiterhin arbeiten“, erläutert Sieper. Genau darauf komme es an, sagt auch Kladny: dass die Patienten aktiv bleiben und sich bewegen. „Alles, was sie zur Passivität bringt, sollte vermieden werden“, betont der Experte. „Oft fordern Patienten Massage, Akkupunktur oder andere passive Behandlungsmaßnahmen, aber der Arzt sollte dies nicht verordnen, weil es den Patienten in eine Krankenrolle versetzt. Dadurch kann es außerdem zu einem Teufelskreis kommen, bei dem die Schmerzen chronisch werden.“ Gesetzliche Krankenkassen sehen exzessive Physiotherapien auch nicht gerne. Umgekehrt wirkt sich die Überzeugung, selbst etwas gegen die Schmerzen tun zu können (Selbstwirksamkeit), günstig auf die Schmerzen und den Grad der Beeinträchtigung aus. Schön und gut, nur können Orthöpäden kaum jeden Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen zum Psychologen schicken. Im besten Fall müsste es der Orthopäde dem Patienten selbst vermitteln. Fraglich ist nur, ob dem Arzt dafür die Zeit bleibt und ob der Patient für solche Worte (statt Medikamente) offen ist. Kladny billigt alternativ nichtsteroidale Antirheumatika zu. Von denen gibt es mehrere Wirkstoffe auch ohne Rezept und damit ohne Arztbesuch.
Einen Aspekt streifen die Lancet-Autoren trotz ihrer umfassenden Darstellung nur am Rande: den Patientenwunsch. Dazu ein paar Zahlen aus Deutschland. Laut repräsentativen Befragungen der Bertelsmann Stiftung sind 52 Prozent der Befragten der Meinung, bei Rückenschmerzen sollte man immer zum Arzt gehen. Ähnlich viele Bürger denken, sich zu schonen wäre die beste Maßnahme. Und 69 Prozent glauben, durch bildgebenden Verfahren fänden Ärzte die Ursache von Rückenschmerzen zuverlässig und schnell. Immerhin gehen 12 bis 14 Prozent aller Aufnahmen nur auf den Patientenwunsch zurück, und nicht auf medizinische Entscheidungen. So mancher Kollege beugt sich anscheinend dem Druck. „Ärzte müssen falsche Kenntnisse und Erwartungen von Patienten korrigieren. Nur so werden sie ihrem eigenen Anspruch als vertrauenswürdige Experten gerecht“, kommentiert Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, die Ergebnisse der Befragung. „Die gründliche körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssen wieder mehr Gewicht erhalten.“ Dafür seien Korrekturen im ärztlichen Vergütungssystem erforderlich, um Gespräche im Verhältnis zu technikbasierten Untersuchungen besser zu honorieren. Auch dieser gut gemeinte Ratschlag hilft Ärzten, die aktuell Patienten mit Rückenschmerzen betreuen, nicht weiter.