80 Prozent der Medizinstudenten promovieren. So viele wie in keinem anderem Fach. Doch was sagt der Titel wirklich aus? Dr. med. – Ist das nur ein Türschild-Doktor oder elementarer Bestandteil der ärztlichen Ausbildung?
Während etwa in der Erziehungswissenschaft noch nicht mal jeder zehnte Absolvent promoviert, strebt so gut wie jeder der mehr als 7.500 Teilnehmer der kürzlich durchgeführten Hartmannbund-Umfrage „Medizinstudium 2020 Plus“ einen eigenen Doktortitel an. Warum? Die Promotion verbessert die Fähigkeit von Ärzten, sich „kritisch mit Methoden wissenschaftlicher Studien auseinanderzusetzen“ und „eigenständig wissenschaftlich zu arbeiten“ – so die offizielle Begründung. Doch mal ehrlich? Gibt es nicht auch einige, die gar keine Lust auf wissenschaftliches Arbeiten und die Erstellung einer Doktorarbeit haben und nur des Titels wegen promovieren? Und was sagt diese Einstellung über die Notwendigkeit des medizinischen Doktortitels aus?
Viele Medizinstudenten haben während ihres Studiums wenig bis kaum Zeit, sich auf die Erstellung ihrer Doktorarbeit zu konzentrieren. Laut der Hartmannbund-Umfrage wünschen sich aber die meisten gerade das, nämlich eine solide Promotion mit wissenschaftlichem Anspruch erstellen zu können. Auf die Frage, wie viel Zeit für die Erstellung einer fundierten medizinischen Promotion benötigt wird, antwortete die Mehrheit der Umfrageteilnehmer: zwischen etwa einem und zwei Jahren Vollzeit. Diesen „Luxus“ können und wollen sich allerdings nur wenige leisten. Oft wird schon bei der Vergabe der Doktorarbeiten die Bereitschaft verlangt, sich ein bis zwei Freisemester dafür zu nehmen, um Vollzeit an einem wissenschaftlichen Projekt zu arbeiten. Die Studenten können solch eine Verlängerung des Studiums allerdings oft nicht finanzieren, zumindest nicht ohne auf die elterliche Finanzspritze oder Nebenjobs angewiesen zu sein. Dazu kommt, dass die meisten Mediziner nach diesem freiwilligen, unbezahlten Jahr im Labor kaum davon sprechen können, fertig zu sein. Bei vielen dauert es noch zwei bis sechs Semester länger, die sie neben dem Studium investieren müssen, bis die Doktorarbeit zum Abschluss kommt. Die Konsequenz: Vielen geht der Spaß am Forschen verloren.
Unvorhergesehene Verzögerungen, ein schief gelaufenes Experiment, schlechte Betreuung – vieles kann dazu führen, dass der ursprünglich gedachte Zeitrahmen der Promotion nicht eingehalten wird. Manchmal sogar auch bewusst von den Professoren und Betreuern verschwiegen wird. Auch Julius Kradenberger, Heidelberger Medizinstudent, musste diese Erfahrung machen: „Als ich mich im 8. Semester auf meine jetzige Promotionsstelle bewarb, hieß es in dem Ausschreibungstext, dass motivierte Studenten die Arbeit in einem Jahr erledigen können und eine rasche Bearbeitung des Themas unterstützt wird. Ich habe mich natürlich darauf eingestellt und die Studienplanung danach ausgerichtet. Motiviert war ich natürlich, doch dann gab es lauter Verzögerungen, mein Thema hat mehrfach gewechselt, mein Betreuer und mein Doktorvater haben immer so viel gearbeitet, dass ich sie kaum zu Gesicht bekam – davon hat mir vorher niemand etwas gesagt. Ursprünglich wollte ich vor dem PJ fertig werden. Jetzt werde ich die Promotion wohl auch noch in die Facharztausbildung mitschleppen müssen, was ich eigentlich unbedingt vermeiden wollte.“
So wie Julius geht es vielen Doktoranden. Hört man sich an der Uni um, gibt es viele Horrorgeschichten von gescheiterten Promotionen. „Mein Mentor in der Klinikeinführung hat mir ganz zu Anfang schon den Tipp gegeben, am Besten rechtzeitig eine Promotion zu suchen und eine ganz leichte statistische, theoretische Arbeit anzufangen oder auch gar keine, wenn man sich den Stress ersparen will“, erzählt Marie K., Medizinstudentin in Regensburg. „Er erzählte mir, dass er bereits seine dritte Doktorarbeit angefangen hat, da die davor so schlecht betreut waren, dass er nicht weitermachen konnte. Auch vielen seiner Freunde würde es ähnlich ergehen. Die hätten ihre Arbeiten zwar nicht abgebrochen, würden aber auch kaum vorankommen und sich nur rumärgern. Es war wirklich schockierend, so was zu hören.“ Natürlich ist es nicht überall so und es gibt bestimmt auch sehr gut betreute Promotionen, die wie am Schnürchen laufen. Doch von denen hört man an der Uni selten. „Die hohe Abbruchquote medizinischer Doktorarbeiten von etwa einem Drittel konnte bisher nicht reduziert werden und ist Zeichen für strukturelle Probleme“, schreibt Marc Dewey im Deutschen Ärzteblatt. Gerade die Betreuung und Aufklärung über die Länge und Art der Arbeit bedarf einiger Verbesserung.
Medizinische Dissertationen haben häufig einen hohen individuellen Nutzen für den Verfasser, der das wissenschaftliche Arbeiten zumindest in Teilen erlernt. Gerade durch die in letzter Zeit öffentlich gewordenen Plagiatsfälle haben die Mediziner-Promotionen allerdings einen immer schlechteren Ruf bekommen. Auch Vorfälle wie der Skandal 2012 in Würzburg tragen dazu bei. Dort soll ein Professor für Medizingeschichte Dissertationen gegen Spendenzahlungen selbst verfasst haben. 2013 soll in der Schweiz der SVP-Politiker Christoph Mörgeli als Titularprofessor an der Uni Zürich und Kurator des medizinhistorischen Museums zahlreiche Doktorarbeiten durchgewinkt haben, die lediglich aus der Transkription historischer Texte bestanden. Solche Vorfälle führen dazu, dass oft an der Qualität medizinischer Dissertationen gezweifelt wird. Von den Kritikern wird oft angeführt, die medizinischen Doktorarbeiten hätten häufig ein Niveau, das unterhalb einer naturwissenschaftlichen Diplomarbeit liege. Sogar der Wissenschaftsrat äußerte sich in ähnlicher Weise. „Als ich mich bei einem Freund, einem Mathematiker, über die Schwierigkeiten bei meiner Dissertation beklagt habe, hat er mich fast ausgelacht“, berichtet auch Jana Pryzbella, Medizinstudentin aus München. „Von meinem Nicht-Mediziner-Freundeskreis werde ich regelmäßig aufgezogen, wie gut wir es eigentlich haben, dass wir ja in einem halben Jahr eine ‚Promotion‘ schreiben könnten, wofür die ‚richtigen‘ Naturwissenschaftler 5–6 Jahre brauchen. Natürlich haben sie in mancher Hinsicht recht. Es gibt wirklich einfache statistische Arbeiten, die nicht annähernd an eine 6-jährige Vollzeitpromotion eines MINT-lers heranreichen. Allerdings dauert unser Studium inklusive Facharztausbildung so lange, dass man hinterher kaum noch einmal 5 Jahre für eine ‚richtige‘ wissenschaftliche Promotion investieren möchte. Mir hat sich schon oft die Frage gestellt, warum wir überhaupt diesen ‚Zwang‘ verspüren, einen Doktortitel auf Teufel komm raus machen zu müssen. Die meisten meiner Kommilitonen wollen später nicht in die Forschung, da ist es doch eigentlich sinnlos unbedingt eine Promotion machen zu wollen.“
Eine Lösung für dieses Problem wäre die Einführung eines Berufsdoktorats für Mediziner wie es zum Beispiel in Österreich, USA, Polen oder Russland der Fall ist. Dort bekommt man automatisch mit Abschluss des Staatsexamens einen medizinischen Doktortitel (MD) verliehen. Um das wissenschaftliche Verständnis für die Auswertung von Studien und Publikationen zu erlangen, könnten Kurse angeboten werden. An einigen Universitäten ist es sowieso schon gang und gäbe, dass Studenten kleinere wissenschaftliche Arbeiten anfertigen müssen. Wer dennoch richtig wissenschaftlich arbeiten und später eine Forscherkarriere einschlagen möchte, kann dazu noch den im Ausland angesehenen forschungsbasierten PhD machen. So kann man auch die von Bernd-Peter Liegener, Berliner Arzt ohne Doktortitel, gefürchtete Situation vermeiden: „Wie ich aber die ewigen Erklärungen hasse, wenn wieder ein Patient fragt: Sie sind gar kein richtiger Doktor?! Wie ich immer wieder fast ein schlechtes Gewissen bekomme, wenn ich mich nicht gegen die Anrede mit Doktor wehre!“ Herr Liegener ist Befürworter der Einführung eines solchen Berufsdoktorats: „Damit hätte auch in Deutschland die liebe Seele ihre Ruh’! Der wissenschaftliche Dr. könnte zur Unterscheidung ‚Dr. med. wiss.‘ heißen, oder – falls die markierte Form zu unelegant oder ungewohnt klingt – der ärztliche Doktor ‚Dr. med. pract.‘ oder ähnlich. Keiner hätte dann mehr ein Interesse daran, überflüssiges Zeug zusammenzuschreiben, und alle wären zufrieden.“ Marcus Eder, PJler am Klinikum der Universität München, sieht das anders: „Gerade, wenn man eine experimentelle Doktorarbeit parallel zum Studium anfertigt, erfordert das eine Menge Aufwand, Belastbarkeit, Verzicht auf Freizeit und ein gehöriges Maß an Frustrationstoleranz. Die Art und Dauer der Doktorarbeit sagt viel über die Ausdauer ihres Verfassers aus und wer bereit ist, diese ‚Belastung‘ während seines Studiums auf sich zu nehmen, kann mit großer Wahrscheinlichkeit später besser unter verschiedenen Anforderungen arbeiten. Ich denke, dass es sicherlich nicht schlecht ist, wenn man im Studium schon früh an wissenschaftliches Arbeiten herangeführt wird und da ist eine Promotion nun mal sehr sinnvoll. Außerdem sind Doktorarbeiten in der Medizin wichtig für den Wissenszuwachs. Diejenigen, die nicht so viel Aufwand betreiben wollen, können sich ja die klinisch-theoretischen Arbeiten aussuchen. Von einem Arzt wird erwartet, dass er in der Lage ist, sich lebenslang weiterzubilden. Dafür sollte man wenigstens einmal eine methodisch einwandfreie und inhaltlich anspruchsvolle Forschungsarbeit erstellt haben.“
Auch wenn die Einführung eines Berufsdoktorats oft diskutiert wird, verändern wird sich so schnell nichts. Vertreter der Medizinstudierenden des Hartmannbunds möchten eher umsetzen, dass die Promotion zum Dr. med. strukturierter wird. So empfehlen sie zum Beispiel die Einführung eines Promotionskollegs an allen Universitäten, um die Studenten besser bei der Durchführung ihrer Doktorarbeit zu begleiten. Außerdem sollte es ihrer Meinung nach bereits ab dem 3. Semester ein Seminar „Wissenschaftlichkeit“ geben, in dem Mediziner praxisorientiert lernen, Studien zu interpretieren und zu hinterfragen sowie wissenschaftliche Quellen richtig zu deuten und anzuwenden. Es wird darauf hingearbeitet, die Rahmenbedingungen für das Verfassen der Promotion zu verbessern und wissenschaftliches Arbeiten stärker zu fördern. Vielleicht ändert sich dadurch in Zukunft die Bedeutung des medizinischen Doktors. Man sollte sich auf jeden Fall mit der Frage beschäftigen, ob die Einführung eines MD – ohne im Studium die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Methoden zu vernachlässigen – in Zukunft nicht doch zeitgemäßer wäre.