Kreidezähne – so nennt man eine Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Diese Mineralisationsstörung der Zähne ist zu großen Teilen noch ein ungelöstes Problem, das derzeit in den Medien diskutiert wird. Was weiß man über die Krankheit und wie wird therapiert?
In etwa 98 % der europäischen Münder findet man Karies. Sie ist die häufigste Infektionskrankheit in Industrieländern. Nun machen Zahnärzte auf eine neue Gefahr aufmerksam: Kreidezähne. Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH), die sich in Form von fleckigen bis bräunlichen Backenzähnen äußert, tritt bei vielen Kindern auf. In manchen Altersgruppen löst sie die Karies als größte Gefahr für die Zähne sogar ab. Wie können Ärzte Betroffenen helfen? „In der Altersgruppe der Sechs- bis Zwölfjährigen sehe ich als Spezialistin für Kinderzahnheilkunde täglich mehrfach Kinder mit einer MIH in unterschiedlichen Ausprägungsformen“, sagt Rebecca Otto aus Jena. „Teilweise kommen Kinder auch mit Schmerzen beim Putzen und Essen in die Praxis. Dies ist eines der Hauptsymptome, das neben der optischen Veränderungen am Zahn auch für Patienten wahrnehmbar ist.“ Sie bestätigt nicht nur aus ihrer Erfahrung, dass die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation in manchen Altersgruppen häufiger als Karies auftreten: „Die aktuelle fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) gibt die Prävalenz für MIH bei Zwölfjährigen mit über 28 Prozent an. Das ist in dieser Altersgruppe höher als die Prävalenz für Karies (18 Prozent).“ Die Zahnärztin Otto ergänzt: „Gerade bei höheren Schweregraden ist MIH häufig auch mit Karies assoziiert.“ Steigende Prävalenzen sind nicht nur bei uns, sondern weltweit zu beobachten.
Bei MIH führen Mineralisierungsstörungen vor oder nach der Geburt zu Strukturanomalien des Schmelzes. Die betroffenen Zähne sind mehr oder minder stark verfärbt, fleckig und rau. Milde Form der MIH mit Verfärbungen auf der Kaufläche eines Backenzahnes © Krämer/DGKiZ Schwere Form der MIH © Krämer/DGKiZ Nach Angaben von Professor Dr. Norbert Krämer von der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ) und der Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Justus-Liebig-Universität Gießen sind vor allem die vier ersten bleibenden Molaren, also bestimmte Backenzähne, betroffen. „Häufig weisen auch die bleibenden Frontzähne und zunehmend auch die zweiten Milchmolaren diese Fehlstrukturierung auf“, ergänzt der Experte. Die Frontzähne sind häufig ebenfalls betroffen. © Krämer/DGKiZ Kreidezähne sind nicht nur ein ästhetisches Problem. Sie reagieren empfindlicher auf Hitze, Kälte oder auf chemische Reize wie Säuren in Lebensmitteln. Selbst das Zähneputzen bereitet bei stark ausgeprägter MIH Schmerzen. Aufgrund ihrer rauen Oberfläche lassen sie sich schwerer reinigen und es drohen Karies-Läsionen. Erklärt wird die Sensibilität durch den porösen Zahnschmelz. Noxen gelangen bis zur Zahnpulpa und lösen dort chronische Entzündungen aus. Außerdem ist der Zahnschmelz bis zu zehn Mal weicher als bei normalen Zähnen. Unter starker Kaubelastung kann die Oberfläche einbrechen. In der Praxis ist MIH jedoch nicht immer gleich stark ausgeprägt.
Die Mineralisationsstörung schwankt in weiten Bereichen. Deshalb wurden verschiedene Skalen zur Beschreibung entwickelt: MIH-Schweregrade nach Wetzel/Reckel:
Klassifikation nach Alaluusua:
Obwohl der schwedische Forscher Göran Koch MIH bereits 1987 beschrieben hat, wissen Experten bis heute nicht zweifelsfrei, wie es eigentlich dazu kommt. „Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung scheinen Weichmacher aus Kunststoffen zu spielen, die mit der Nahrung aufgenommen werden“, vermutet Professor Krämer von der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde . „Aufgrund von Tierversuchen ließ sich ein Zusammenhang zwischen Bisphenol A-Konsum und der Entwicklung von MIH nachweisen.“ Erhielten schwangere Ratten die Chemikalie, zeigte der Zahnschmelz eine Hypomineralisation, die menschlichen „Kreidezähnen“ nicht unähnlich war. Das Molekül hat hormonähnliche Eigenschaften. Die negativen Auswirkungen von Weichmachern wie Bisphenol A auf die Gesundheit sind seit Jahren ein vieldiskutiertes Thema. Seit Mitte 2011 dürfen etwa bei uns keine Babyflaschen mit dem Weichmacher mehr verkauft werden. Andere Gebrauchsgegenstände gelten Bewertungen zufolge als unsicher, dürfen aber weiterhin verkauft werden.
Als weitere mögliche Auslöser nennt der Experte Infektionskrankheiten, Antibiotika, Windpocken, Dioxine sowie Erkrankungen der oberen Luftwege. „Dennoch gilt die präzise Ursache wissenschaftlich weiterhin als ungeklärt“, fasst Krämer zusammen. Klar ist: Da die Schmelzentwicklung betroffener Zähne zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, müssen in diesem Zeitraum Umweltfaktoren auf Mutter oder Kind einwirken. Ameloblasten könnten eine mögliche Zielstruktur sein. Sie produzieren unseren Zahnschmelz. Im Tierexperiment veränderte Bisphenol A die Genexpression von Ameloblasten. Eine Exposition nach Abschluss der Zahnbildung führt nicht zur MIH. Erwachsene, die Umweltfaktoren ausgesetzt sind, entwickeln keine Kreidezähne mehr.
„Eine sichere Prävention von MIH ist zum jetzigen Stand nicht möglich, weil die Veränderungen schon während der Zahnentwicklung unbemerkt stattfinden und die Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind“, gibt Professor Dr. Stefan Zimmer zu bedenken. Er forscht an der Universität Witten/Herdecke und ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (DGPZM). Dennoch sieht Zimmer Möglichkeiten für Kollegen, aktiv zu werden:
Eingriffe gelten als schwierig, da Lokalanästhetika nicht immer wirken. Das ergab eine Befragung von Zahnärzten. Um die Behandlung zu erleichtern, haben Kollegen ihr „Würzburger MIH-Konzept“ mit einem MIH Treatment Need Index (MIH TNI) entwickelt. Der Score reicht von
Dadurch werden noch individuellere Behandlungen möglich. Zur Versorgung haben sich Kompositfüllungen bewährt. Das Material versiegelt die lädierte Oberfläche: MIH-Zähne mit Kompositfüllungen © Krämer /DGKiZ Zähne mit MIH bleiben bei Erwachsenen langfristig erhalten, falls sie mehrmals im Jahr zur Kontrolle gehen. Der Zahnarzt wird die Zähne mit Fluorid behandeln, versiegeln und gegebenenfalls Kronen oder Teilkronen einsetzen.