Kleines Programm, große Bedeutung: Gesundheits-Apps dürfen auf keinem Smartphone fehlen. Deren Qualität schwankt stark, berichten Wissenschaftler jetzt. Sie fordern Standards – und liebäugeln mit der Kostenübernahme durch GKVen.
Auf der letzten re:publika präsentierte Ida Tin, CEO und Mitbegründerin von „Clue“, eine der erfolgreichsten Gesundheits-Apps der letzten Jahre. Mehr als vier Millionen Frauen haben ihr kleines Programm bereits heruntergeladen, um ihren Zyklus zu beobachten. Screenshots: Clue Andere beliebte Tools befassen sich mit Fitness, Bewegung, mit dem Energieverbrauch, dem Körpergewicht oder dem Blutglukosespiegel. „Für viele sind Apps heute schon ein Ansporn, sich mehr zu bewegen, sich gesünder zu ernähren – und sie unterstützen zum Beispiel auch bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten“, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). „Doch bei mehr als 100.000 Gesundheits-Apps ist es für Bürger, aber auch für Ärzte nicht einfach, zwischen guten und schlechten Angeboten zu unterscheiden.“ Jetzt liegen Ergebnisse einer umfassenden, staatlich geförderten Studie zu Health Apps vor. Zu den Kosten will sich sein Haus nicht äußern.
Peter L. Reichertz vom Institut für medizinische Informatik (PLRI) hat zusammen mit Kollegen Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps untersucht. Momentan gibt es noch wenige Produkte mit diagnostischem oder therapeutischem Anspruch. Hersteller veröffentlichen laut Reichertz eher Apps zur Gesundheitsförderung inklusive Prävention sowie zur Therapietreue. Die Studie zeigt an mehreren Beispielen, mit welchen Problemen Entwickler gerade zu kämpfen haben. Qualitativ hochwertige Anwendungen mit validen Informationen seien „eher die Ausnahme als die Regel“, heißt es im Report. Drei der vier getesteten Apps zur Risikoabschätzung von Hautveränderungen stuften in mindestens 30 Prozent der Fälle Melanome als unbedenklich ein. Patienten wähnen sich in falscher Sicherheit und schieben den überfälligen Besuch beim Dermatologen auf die lange Bank. Auch bei der Pharmakotherapie von Diabetikern könne es durch Apps zu Fehldosierungen kommen, monieren die Autoren.
Doch welche App ist gut oder schlecht? Mit dieser Frage sind Laien überfordert. „Wir brauchen klare Orientierungshilfen“, so das Resümee von Studienleiter Urs-Vito Albrecht. Er forscht im MedAppLab der Medizinischen Hochschule Hannover. Albrecht zufolge stecken in Gesundheits-Apps große Potenziale, etwa zur Versorgung chronisch kranker, älterer oder behinderter Menschen und in ländlichen Regionen. Allerdings gebe es zum Nutzen der Apps bislang wenig Evidenz. Reichertz spricht ebenfalls von "Hinweisen auf positive Effekte", fordert aber eine detaillierte wissenschaftliche Evaluationen. Methodisch hochwertige Daten kommen letztlich den Entwicklern selbst zu Gute, und zwar aus rein ökonomischer Sicht. Gesetzliche Krankenkassen stellen sich die Frage, welche Apps für Versicherte tatsächlich einen Mehrwert bringen. Vor wenigen Monaten hat sich die TK entschlossen, Tinnitracks zu erstatten - eine Premiere in Deutschland. Leitlinien oder Empfehlungen für Health Professionals könnten den Auswahlprozess in Zukunft erleichtern.
Das führt unmittelbar zu rechtlichen Fragen. Schon heute gelten für Medizin-Apps, die der Diagnose, Therapie oder Prävention von Krankheiten dienen, strenge Auflagen. Gesundheits-Apps mit ähnlichem Leistungsumfang sind davon nicht betroffen. „Für Gesundheits-Apps müssen Informationspflichten der Hersteller zu Inhalt, Funktionalität und Datenschutz eingeführt werden, damit Verbraucherinnen und Verbraucher gute und sichere Angebote erkennen können “, sagt Klaus Müller. Er ist Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). Bei medizinischen Apps für Diagnostik und Therapie wünscht er sich, dass sie „mit bereits vorhandenen konventionellen Tests mithalten können – etwa bei der Messgenauigkeit oder der Berücksichtigung spezieller Nutzerbedürfnisse “. Konsumenten benötigen trotzdem Orientierungshilfen. Deshalb könnte sich der vzbv-Chef eine unabhängige Online-Plattform geschaffen werden, die empfehlenswerte Apps vorstellt.
Bleiben noch ethische Richtlinien für die Entwicklung, Empfehlung und Nutzung. „Dass Versicherte im Gegenzug für das Tragen von Fitnessarmbändern das Versprechen günstiger Preise erhalten, sich aber in Wirklichkeit ungewollt „nackt“ machen, darf schon aus Datenschutzgründen nicht sein “, so Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. „Denn so würde das Prinzip der Solidargemeinschaft mit „Big Data“ durch die Hintertür ausgehöhlt. “ Verbraucherschutzminister Heiko Maas (SPD) teilt diese Sichtweise: „Niemand sollte gezwungen sein, seine Fitness überwachen zu lassen. Das bedeutet zum Beispiel, dass man bei Krankenversicherungen keine Nachteile haben darf, weil man seine Gesundheitsdaten nicht zur Verfügung stellt. “ Verabschiedet Deutschland einmal mehr starre Regelungen, um alle Entwicklungen im Keim zu ersticken? Hermann Gröhe dementiert. Er will Hersteller, Kassenvertreter, Health Professionals und IT-Experten zu einem Fachdialog einladen, um „gemeinsam Standards zu entwickeln, an denen sich gute, vertrauenswürdige Apps messen lassen müssen “. Termine stehen noch nicht fest.