Über 40 Mio. Menschen im deutschsprachigen Raum nutzen das Internet, wenn es um ihre Gesundheit geht. Auf dem 122. Internistenkongress der DGIM war Telemedizin ein wichtiger Schwerpunkt. Kinder und Herzpatienten sind nur zwei Zielgruppen der neuen Projekte.
Internetmedizin ist mobil und global. Die Entfernung zwischen Arzt und Patient wird bestimmt durch die Entfernung des Patienten zu seinem Smartphone oder Tablet. Nach der Definition der WHO bezeichnet der Begriff E-Health (electronic Health) den kostengünstigen und sicheren Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), um die allgemeine Gesundheit und gesundheitsbezogene Bereiche zu fördern. Medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sollen in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen hinweg abgedeckt werden.
Das Berufsrecht setzt voraus, dass sich der Arzt ein unmittelbares Bild des Patienten durch die eigene Wahrnehmung verschafft. Ist dieser Grundsatz überhaupt mit der Telemedizin vereinbar? Umgangssprachlich wird die Regelung in § 7 Abs. 4 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte (MBO-Ä) als „Fernbehandlungsverbot“ bezeichnet. Der Paragraf beinhaltet jedoch kein generelles Verbot einer „Fernbehandlung“. „Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt.“ In einem Referentenentwurf zur AMG-Novelle wird nun versucht, die Fernbehandlung im Arzneimittelrecht zu regeln, um so den Vertrieb von Arzneimitteln nach einer Verordnung aus dem Europäischen Ausland auszuschließen. Neue Formulierungen weichen dieses Ziel jedoch teilweise auf. Statt eines „persönlichen“ Arzt-Patienten-Kontakts ist jetzt nur noch ein „direkter“ Kontakt für eine Verordnung erforderlich, der auch durch „Inaugenscheinnahme“ erfolgen kann. Der Bundesverband Verbraucherzentrale (VZBV) und die Versandapotheken sehen in der Novelle einen Verstoß gegen EU-Recht und einen Rückschritt beim angestrebten E-Health-Ausbau in Deutschland. Die Situationen, bei denen ein dem Arzt bekannter Patient per Internet eine Videokonsultation erhält, bleiben hiervon komplett unberührt. Gegenwärtig wird der „Einheitliche Bewertungsmaßstab“ (EBM) im Hinblick auf eine mögliche Finanzierung der Telemedizin überprüft. Die „Kommission Telemedizin“ der DGIM ist hier aktiv. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind Patienten an der Nutzung von Video-Sprechstunden bei ihrem Haus- oder Facharzt interessiert, kosten darf dies aber nichts.
Eine anderes Projekt soll nicht den Patienten direkt, sondern viel mehr den Kinderarzt per Telemedizin unterstützten. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) führt 2016 als einer der ersten ärztlichen Berufsverbände in Deutschland telemedizinische Konsultationen ein. Niedergelassene Pädiater können mithilfe des Expertenkonsils PädExpert® bei schwierigen Krankheitsfällen und komplizierten chronischen Krankheitsverläufen das Expertenwissen eines Spezialisten zur Diagnose und Therapie einholen. Wie das funktioniert und ob das Beispiel Schule machen kann, diskutierten im April dieses Jahres Experten auf dem Frühjahrssymposium der Korporativen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM) im Rahmen des 122. Internistenkongresses in Mannheim. Der deutschlandweite Einsatz des Telemedizin-Systems ist ab dem 1. Juli 2016 geplant. In zwei von drei Fällen ließen sich die Anfragen alleine über PädExpert® lösen; ein Besuch beim spezialisierten Facharzt war in diesen Fällen nicht erforderlich. 70 Prozent der Patienten sind mit der telemedizinischen Behandlung zufrieden, 92 Prozent der anfragenden Allgemeinpädiater waren mit dem Resultat der Behandlung ebenfalls zufrieden. Durchschnittlich konnte in 63,5 Prozent der Fälle eine Diagnose gestellt werden. Die Zeit von der Anfrage bis zur Diagnosestellung konnte um durchschnittlich 16,5 Tage reduziert werden. Der Zeitvorteil der virtuellen Konsiliararzt-Medizin wirkt sich nicht nur im ländlichen Bereich, sondern insbesondere auch in Großstädten sehr positiv aus. Derzeit stehen folgende Spezialgebiete bei PädExpert® zur Verfügung:
Nicht nur bei pädiatrischen Fragestellungen bietet die Telemedizin Innovationen. In Zusammenarbeit mit der Neurologischen Klinik Bad Neustadt hat das Zentrum für Telemedizin Bad Kissingen das Programm TeleAid für Flüchtlinge (TAF) entwickelt. Bei dem Projekt helfen aktuell zehn arabisch sprechende Ärzte des Rhön-Klinikums bei der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern. Startschuss war der 1. April 2016. „Im Aufnahmezentrum Bad Kissingen leben im Augenblick 70 Asylbewerber, in der gesamten Region sind es über 1.100. Vor allem sprachliche Barrieren führen in diesem Zusammenhang zu Überlastung, Überforderung und Lücken in der medizinischen Versorgung.“ Genau an diesem Punkt setze das Projekt „TeleAid“ an, so Prof. Dr. Bernd Griewing, Vorstand Medizin der RHÖN-KLINIKUM AG. Bisher musste stets ein Dolmetscher die Patienten zum Arzt begleiten. Das ist durch „TeleAid“ nicht mehr notwendig. Der Begriff „TeleAid“ ist auch eine Schutzmarke eines Premiumautomobilproduzenten, hat mit diesem Projekt aber keine Gemeinsamkeiten.
Ein Arzt, der einen Großteil seiner Zeit hinter dem Steuer verbringt, um Patienten zu besuchen, verliert Zeit für seine eigentliche Tätigkeit. Dies wollte Dr. Thomas Aßmann aus Lindlar in Oberbayern ändern und entwickelte das Projekt „Telearzt“. Gemeinsam mit dem Mannheimer Telemedizin-Dienstleister Vitaphone und dem Deutschen Hausärzteverband ist es nun gestartet. Der Mediziner fährt nicht selber zum Patienten, sondern wird bei Bedarf online zugeschaltet. Die Versorgungsassistentin Hausarzt (VERAH) ist live vor Ort und kommuniziert mit dem Kranken. VERAH ist eine zusätzliche Qualifizierung für erfahrene Medizinische Fachangestellte. Das Projekt ist vor allem für die Betreuung chronisch kranker Patienten in unterversorgten ländlichen Gebieten interessant. Das medizinische Equipment hat VERAH im Rucksack dabei. 3-Kanal-EKG, Pulsoximeter, Blutzuckermessgerät, Spirometer, Blutdruckmessgerät, Waage und einen Tablet-PC zur Daten-Übertragung. Der Arzt kann jederzeit über eine gesicherte Datenleitung zugeschaltet werden. Per Kamera kann eine Videokonferenz gestartet werden. KHK-Patienten oder Diabetiker gehören zu der Patientengruppe, die eine intensiveren Betreuung bedürfen. Hierfür steht ein individualisiertes Patientenset zur Verfügung. Herzpatienten erhalten ein EKG-Gerät, ein Gerät zur Blutdruckmessung und eine Waage. Eine Übertragungseinheit übermittelt die Werte an die Arztpraxis. Bedenken in Sachen Datenschutz und Übertragungssicherheit räumt Dr. Aßmann aus. Das Projekt erfüllt alle entsprechenden technischen und rechtlichen Anforderungen. Die Daten werden über ein Servicecenter an Vitaphone geleitet, der die telemedizinische Datenübertragung sicherstellt. Patientendaten werden beim telemedizinischen Dienstleister nicht gespeichert.
Telemedizin soll den Kontakt zum Arzt nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen. Nicht alle Angebote sind jedoch wirklich sinnvoll. In einer BMJ-Studie wurden 23 internationale Online-Portale auf ihre Tauglichkeit zur Ferndiagnose untersucht. Davon gaben acht nach Eingabe der Symptome eine Diagnose an, vier empfahlen Handlungsmaßnahmen und elf gaben beides an. In nur einem Drittel aller Fälle gaben die Portale die richtige Diagnose an. Bei 58 Prozent der Patientenanfragen listeten sie den korrekten Befund unter den Top 20 der genannten Vorschläge. Etwas besser schnitten Programme ab, die dem Patienten nach Eingabe der Symptome einen Handlungsvorschlag geben. 57 Prozent der Angaben erwiesen sich als richtig. Insbesondere bei Symptomen, die einen Notfall suggerierten, gaben die Tools in 80 Prozent der Fälle die Empfehlung, einen Arzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen.
In der Studie „Partnership for the Heart“ konnte bei der Untergruppe „dekompensierte, herzinsuffiziente Patienten“ während der 26-monatigen Überwachung durch die Telemedizin die kardiovaskuläre Sterblichkeit um 50 Prozent und die Zahl verloren gegangener Lebenstage durch Tod oder Krankenhausbehandlung ebenfalls um 50 Prozent reduziert werden. An der Berliner Charité ist mit 1.500 teilnehmenden Patienten eine der weltweit größten Telemedizinstudien gestartet (Telemedical Interventional Management in Heart Failure II (TIM-HF II)). Sie soll die Grundlagen dafür liefern, dass die telemedizinische Mitbetreuung von Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz sowohl in den medizinischen Leitlinien als auch in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Primärer Endpunkt der Studie sind die verlorenen Tage aufgrund von kardiovaskulärer Hospitalisierung und Tod. Das zweite Ziel ist zu zeigen, dass die telemedizinische Betreuung bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz im strukturschwachen Raum der Versorgung in einer Metropolregion nicht unterlegen ist.
Bereits vor 15 Jahren wiesen amerikanische Wissenschaftler den positiven Nutzen von Telemedizin für Diabetespatienten nach. In den Studien übermittelten die Patienten ihre Blutglukoseprofile an Kompetenzzentren. Die telemedizinische Betreuung erfolgte ausschließlich telefonisch. „Die Telediabetologie hat das Potenzial, die bisherige ambulante Diabetestherapie durch eine Unterstützung der Betroffenen signifikant zu verbessern“, so Prof. Dr. S. Martin, Direktor und Chefarzt des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums. Die Telemedizin wird sicherlich zukünftig aus Praxen und Kliniken nicht mehr wegzudenken sein. Angela Merkel ist von Telemedizin überzeugt: „Die hohe Qualität unserer medizinischen Versorgung muss auch in Zukunft gerade im ländlichen Raum gesichert werden. Dabei spielt die Entwicklung der Telemedizin im Übrigen eine zentrale Rolle“, so die Bundeskanzlerin in einer Regierungserklärung.