Vitamine, Mineralstoffe oder sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe stehen bei Apothekenkunden hoch im Kurs. Hersteller befeuern ihrerseits den Absatz über Marketing-Seminare. Aus wissenschaftlicher Sicht spricht viel gegen den flächendeckenden Einsatz dieser Pülverchen.
Sommer, Sonne, Supplementation: Vom 20. bis 23. April hat Orthomol rund 70 Apotheker und PTA aus allen Kammerbezirken nach Mallorca eingeladen. Der Hersteller ließ sich nicht lumpen: Angestellte mussten keinen Beitrag zahlen, und für Inhaber wurde nur ein kleiner Obolus fällig. Ziel des Seminars war, den Absatz von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) zu forcieren.
Dazu gehören Tipps zum „erfolgreichen Umgang mit Einwänden“, wie es im Skript heißt. Kunden könnten schließlich „reine Geldmacherei“ wittern oder „Angst vor Überdosierungen“ haben. Nicht zuletzt bleibt die Sorge, natürliche Vitamine seien „doch viel besser als die chemisch hergestellten“. Der Rat des Herstellers: „Empfehlungen und zusätzliche Informationen sind nicht aufdringlich.“ In der Offizin böten sich Aktionstage inklusive Ausschank an, beispielsweise mit alkoholfreien Orthomol-Cocktails, Rezepte inklusive. Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel – die Grenzen verschwimmen für Laien vollkommen. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Bereits Ende 2013 fanden Forscher Hinweise [Paywall], dass ältere Menschen zu hohe Mengen diverser Supplementationen einnehmen, allen voran Magnesium, Vitamin D oder Vitamin E. An der Studie nahmen 1.079 Senioren der KORA-Studie (Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg) teil. Damit nicht genug: „Viele Medikamente, die einer Arthrose vorbeugen oder ihr Fortschreiten verhindern sollen, liegen nur knapp über oder auf dem Niveau eines Placebo-Effekts“, erklärt Dr. Uwe de Jager von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Ähnlich kritisch bewertet er Nahrungsergänzungsmittel wie Chondroitinsulfat, Muschelextrakte, acetyliertes Hydroxyprolin (Oxaceprol) oder Heilpflanzen. Lediglich bei Glucosamin sei die Datenlage etwas besser. Hier gebe es in den Leitlinien der Osteoarthritis Research Society International (OARSI) eine zurückhaltende Empfehlung.
Welche unerwünschten Effekte NEM mitunter hervorrufen, zeigt eine aktuelle Untersuchung. Andrew I. Geller, Forscher an den Centers for Disease Control and Prevention (CDC), hat Patientenakten aus 63 Notfallausnahmen analysiert. In 3.667 Fällen fand er Hinweise, dass es durch NEM zu gefährlichen Ereignissen gekommen war. Dazu gehörten allergische Reaktionen nach Einnahme von Vitaminen und Spurenelementen, aber auch nicht deklarierte, rezeptpflichtige Wirkstoffe. Hochgerechnet auf alle Bundesstaaten spricht Geller von rund 23.000 Notfallbehandlungen pro Jahr. In diesem Zusammenhang warnt die Cochrane Collaboration speziell vor Beta-Carotin, Vitamin E und Vitamin A. Wissenschaftler bringen regelmäßige Gaben mit einer höheren Mortalität in Verbindung. Präventive Effekte konnten sie nicht finden. Selbst Orthomol gibt Apothekern als Empfehlung, i-Care bei Krebs nicht ohne onkologischen Rat abzuverkaufen. Als Anwendungsgebiet wird das Immunsystem genannt. Sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe könnten jedoch mit Chemotherapeutika interagieren. Über den Sinn lässt sich streiten: „Nahrungsergänzungsmittel sind für gesunde Personen, die sich normal ernähren, in der Regel überflüssig“, stellt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) klar. „Bei ausgewogener Ernährung bekommt der Körper alle Nährstoffe, die er braucht.“ Einseitige, unausgewogene Ernährungsweise könnten nicht durch NEM ausgeglichen werden. Mit dieser Argumentation bewerben jedoch viele Hersteller ihre Produkte.
Umso schwerer wiegen unbedachte Empfehlungen, die rein ökonomische Ziele verfolgen. Mit dem Antikorruptionsgesetz lässt sich nicht argumentieren. Zuletzt hatte Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbands, Nachbesserungen am ursprünglichen Referentenentwurf kritisiert: „Warum sollen die Regelungen zur Bekämpfung von Bestechlichkeit für Ärzte gelten, aber nicht für Apotheker?“ Litsch denkt zwar eher an rabattierte Rx-Präparate. Seine Argumentation lässt sich auf OTCs oder frei verkäufliche Produkte wie NEM ausdehnen. Hier spielen mengenabhängige Rabatte der Hersteller eine große Rolle. Health Professionals aus anderen Bereichen sind hier deutlich weiter. Das Bezirksberufsgericht Nordbaden für Ärzte in Karlsruhe hat einer Medizinerin untersagt, NEM in ihrer Praxis anzubieten (Az.: BGÄ 18/14 KA). Juristen sahen darin einen Verstoß gegen Paragraph 3 Absatz 2 der (Muster-)Berufsordnung: „Ärztinnen und Ärzten ist untersagt, im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer ärztlichen Tätigkeit Waren und andere Gegenstände abzugeben oder unter ihrer Mitwirkung abgeben zu lassen sowie gewerbliche Dienstleistungen zu erbringen oder erbringen zu lassen, soweit nicht die Abgabe des Produkts oder die Dienstleistung wegen ihrer Besonderheiten notwendiger Bestandteil der ärztlichen Therapie sind.“ Bei Apothekern besteht hier großer Nachholbedarf.