Die Angst vor einem harten Brexit wächst. Britische Patienten bunkern schon jetzt Arzneimittel: Mittlerweile drohen bei 80 Präparaten Engpässe. Der Brexit könnte sich auch auf die Medikamentenversorgung in Deutschland auswirken. Wie geht es weiter?
Nach Theresa Mays Niederlage im britischen Unterhaus wird ein „harter“ Brexit, also ein ungeordneter Bruch mit der Europäischen Union, immer wahrscheinlicher. Schon im Oktober hatte Martin Sawer, Chef des britischen Großhandelsverbands (Healthcare Distribution Association) vor Engpässen bei Arzneimitteln nach einem „No-Deal“-Szenario gewarnt. Nur wollte niemand so recht auf ihn hören und Vorräte anlegen. Jetzt bunkern Patienten Arzneimittel. Mittlerweile drohen bei 80 Präparaten Engpässe. Nach Angaben des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) sind vor allem britische Patienten betroffen. Schlimm genug. Andere Nationen könnten jedoch schneller als erwartet in die Schusslinie geraten.
Engpässe auch in Deutschland möglich
Auch hierzulande könnte die Versorgung empfindlich gestört werden, vermutet der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH). In einer Meldung warnen Experten, die Gefahren seien für Großbritannien, aber auch für die verbleibenden EU-Staaten „unabsehbar“. Das hat mehrere Gründe. Einerseits gelangen zahlreiche Rohstoffe, Wirkstoffe oder Hilfsstoffe über Großbritannien in europäische Märkte. Um welche Substanzen es sich handelt, weiß niemand genau. Firmen müssen Details dazu nicht veröffentlichen.
Andererseits wurde laut BAH-Informationen „nahezu jedes vierte Arzneimittel für den gesamten EU-Markt in Großbritannien freigegeben und in Verkehr gebracht“.
Zum Hintergrund: In der EU sind zwei Zulassungsmodalitäten möglich.
Die britische Zulassungsbehörde (Medicines and Healthcare products Regulatory Agency, MHRA) war beliebt. Sie galt als effizient und zuverlässig. Nur ohne Zulassungsinhaber bzw. ohne Qualitätssicherung innerhalb der EU sei eben – wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schreibt – keine Vermarktung in der EU möglich.
Nicht alle Firmen haben ihre Hausaufgaben gemacht
Um ein Gefühl für Zahlen zu bekommen, lohnt sich ein Blick in Dokumente der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPA). Die europäische Dachorganisation von Verbänden forschender Pharmaunternehmen hat wichtige Kennzahlen veröffentlicht. Demnach werden pro Monat 45 Millionen Arzneimittelpackungen von UK in andere EU-Staaten transportiert. In der entgegengesetzten Richtung sind es 37 Millionen, Stand November 2017. Zum Zeitpunkt der Erhebung liefen 1.500 klinische Studien im Königreich. 400 Produkte sind in der Hand britischer Firmen.
Die meisten Hersteller sind mittlerweile aufgewacht und haben Zulassungsanträge bei der EMA bzw. bei anderen regionalen Behörden gestellt. Ausnahmen gibt es dennoch: Laut EMA waren Ende September 2018 noch 39 Pharmaka vom Verlust ihrer Zulassung betroffen.
„Um das zu erwartende Chaos abzumildern, müssen die Mitglieder der EU und auch Großbritannien dann selbst schnellstmöglich nationale Maßnahmen treffen, die zumindest in Teilen einen ungehinderten Warenfluss vom Stichtag an sicherstellen“, sagt Dr. Elmar Kroth vom BAH. Das ist leichter gesagt als getan.
Neues Einfallstor für Fälschungen
Was ab dem 30. März an der neuen EU-Außengrenze zum Vereinigten Königreich passieren wird, weiß derzeit niemand. Gibt es Zollkontrollen, werden Zölle erhoben, und reicht das Personal dafür aus? Oder wittern Fälscher die Gunst der Stunde?
Streng genommen unterliegt Großbritannien dann nicht mehr der Fälschungsschutzrichtlinie 2011/62/EU und der delegierten Verordnung (EU) Nr. 2016/161. Deutschland setzt die Vorgaben für mehr Sicherheit bei Pharmaka mit securPharm um: Jede Packung trägt ab 9. Februar 2019 Sicherheitsmerkmale. Daran muss sich Großbritannien nicht halten. Die EFPA sieht hier keine Risiken. Sie will Arzneimittel für klinische Studien, aber auch Rohstoffe oder Wirkstoffe, von Kontrollen ausnehmen.
EMA: Der Papiertiger brennt lichterloh
Während alle Beteiligten ihre europäischen Wunden lecken, bleibt als Frage: Was lernen EU-Politiker aus dem Brexit? Mit Stärken und Schwächen Europas könnte man Bücher füllen. Deshalb an der Stelle ein Blick auf arzneimittelrechtliche Aspekte.
Europa will als starker Wirtschaftsraum auftreten, schwächt sich aber selbst durch kleinteilige Regelungen. Bestes Beispiel ist die EMA selbst. Ihr Schwerpunkt ist – sehr zur Freude pharmazeutischer Hersteller – das Zulassungswesen. Experten sollten darüber nachdenken, Prozesse zu vereinheitlichen und nur noch zentralisierte Verfahren durchzuführen.
Würde eine starke Institution auch die Preisverhandlungen durchführen, gäbe es endlich einen starken Akteur mit großem Marktvolumen, um Firmen die Stirn zu bieten. Derzeit werden Abgabepreise separat in den einzelnen Ländern ausgehandelt. Vielleicht wäre es dafür auch sinnvoller gewesen, mit Büros in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu arbeiten, anstatt überstürzt nach Amsterdam zu fliehen.Bildquelle: Kieran Lamb / flickr