In Deutschland bekommen Frauen immer häufiger Zwillinge. Als Grund sehen Forscher nicht nur die steigende Konzentration des Follikelstimulierenden Hormons bei immer älter werdenden Müttern, sondern vielmehr die unüberlegte Medikation beim Kinderwunsch.
Daten zur Bevölkerungsentwicklung zeigen einen auffälligen Trend. Gab es im Jahr 1950 noch 11,6 Zwillingsgeburten pro 1.000 Frauen, waren es in 2014 etwa 18,4, berichtet das Statistische Bundesamts (DESTATIS). Dabei handelt es sich keineswegs um Trends, die sich nur über Jahrzehnte hinweg beobachten lassen. Bereits im vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen 2010 und 2014 offenbart sich, dass Frauen immer häufiger Zwillinge oder Drillinge zur Welt bringen. Quelle: DESTATIS Gilles Pison vom französischen Institut national d'études démographiques hat sich auf die Suche nach Erklärungen gemacht und gleich mehrere Ansätze gefunden.
Der Forscher schreibt, steigende Raten an Zwillingsgeburten seien in allen entwickelten Nationen zu beobachten. Pison erklärt nur ein Drittel des Effekts mit dem steigenden Alter von Müttern: ein Effekt, der sich in Deutschland seit Jahren bemerkbar macht. Je älter Frauen sind, desto unwahrscheinlicher werden sie schwanger, aber desto wahrscheinlicher bekommen sie Zwillinge. Dieses Paradoxon ist auf zwei Eisprünge pro Zyklus zurückzuführen. Zur Erklärung führt Professor Dr. Jan-Steffen Krüssel, aus Düsseldorf, in einem Übersichtsartikel vor allem steigende Konzentrationen des Follikelstimulierenden Hormons (FSH) am Ende der reproduktiven Phase an. Mitunter werde die Schwellendosis überschritten, die einen einzelnen Eisprung auslöse. Das Ergebnis sind Mehrlingsschwangerschaften. Auch der Body Mass Index ist von Bedeutung: Ein erhöhter BMI steht ebenfalls mit Zwillingsschwangerschaften in Verbindung. Durchschnittliches Alter der Mütter bei der Geburt ihrer lebend geborenen Kinder. Quelle: DESTATIS
Diese Phänomene spielen laut Gilles Pison aber nur eine untergeordnete Rolle. Der Forscher nennt in seinem Artikel als wichtigsten Grund hormonell wirksame Pharmaka wie Clomifen. Zwei Drittel der Zunahme an Mehrlingsgeburten seien darauf zurückzuführen. Für die USA hat Aniket D. Kulkarni, Forscherin bei den Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta, Zahlen veröffentlicht. Kulkarni führt 36 Prozent aller Zwillings- und 77 Prozent aller sonstigen Mehrlingsgeburten auf Kinderwunschbehandlungen zurück, Tendenz steigend. Bis zu 15 Prozent aller Frauen setzen Ovulationsauslöser ein. Sie schätzen vor allem den geringen Aufwand. Clomifen ist der wichtigste Wirkstoff dieses Bereichs. Das Molekül gehört zu den selektiven Estrogenrezeptormodulatoren (SERM). Es bindet an Steroidrezeptoren im Hypothalamus und blockiert diese. Gonadotropin erzeugende Zellen schütten als Reaktion auf den vermeintlichen Mangel an Sexualhormonen fleißig das luteinisierende Hormon (LH) beziehungsweise das follikelstimulierende Hormon (FSH) aus. In der Praxis hat Clomifen einen vermeintlichen Vorteil: Anstatt teure In-vitro-Fertilisationen über sich ergehen zu lassen, benötigen Frauen nur Tabletten für 21,81 Euro. Das allein stellt eigentlich kein Problem dar: Spezialisierte Kinderwunschzentren arbeiten nämlich per Ultraschallkontrolle. Finden Gynäkologen mehrere Follikel im Ovar, raten sie im aktuellen Zyklus von ungeschütztem Geschlechtsverkehr ab. Gleichzeitig korrigieren sie die Clomifen-Dosis nach unten und warten auf den nächsten Zyklus. Diese Strategie führt also zu vernachlässigbaren Quoten an Mehrlingsschwangerschaften. Aber manche Frauenärzte verschreiben das Präparat ohne weitere Kontrollen. Die Folgen davon bleiben nicht aus.
Bei Mehrlingsschwangerschaften kommt es häufiger zu intrauterinen Wachstumsrestriktionen und zum vorgeburtlichen Tod, berichtet Joachim W. Dudenhausen aus New York. Gynäkologen müssen selektive Fetozide zwar seltener als bei Dreilings- oder Vierlingsschwangerschaften durchführen. Ihnen geht die Arbeit trotzdem nicht aus. Die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer liegt einer älteren Arbeit zufolge bei 39 (Einlinge), 36 (Zwillinge), 32 (Drillinge) oder 30 Wochen (Vierlinge). Als Grund für Frühgeburten kommen Zervixinsuffizienzen durch den höheren Druck in Betracht. Daneben halten Kollegen eine verminderte Uterusdurchblutung und verminderte Plazentafunktion für plausibel, immer relativ zum Gewicht der ungeborenen Kinder gesehen. Grund genug für Ärzte, sich für einen Kaiserschnitt zu entscheiden. In den letzten Jahren hat sich die Rate von Kaiserschnitten bei Mehrlingsschwangerschaften von 53 auf 75 Prozent erhöht. Das zeigen Zahlen aus den USA. Sectiones gehen mit zahlreichen physischen und psychischen Folgen für die Mutter einher. Für Ärzte besteht das Dilemma immer darin, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen, um die optimale Entscheidung zu treffen.
Doch was tun? Eli Y. Adashi, ein Kollege aus Providence, Rhode Island, leitet aus den Daten klare Forderungen ab. Statt Clomifen zu verschreiben, rät er Kollegen, allen Frauen mit intaktem Eisprung eine künstliche Befruchtung anzubieten. Ärzte sollten keinesfalls mehrere Embryonen einsetzen, so Adashi. Patientinnen würden sich darüber nicht unbedingt freuen.