Herpesviren sollen an der Entstehung von Depressionen, Alzheimer und Autismus beteiligt sein – und sind damit womöglich alles andere als harmlos. Eine aktuelle Studie scheint den Zusammenhang zwischen Herpesviren und Multiple Sklerose sogar zu bestätigen. Könnten Impfungen das Problem lösen?
Das Epstein-Barr-Virus ist den meisten als Auslöser des Pfeifferschen Drüsenfiebers bekannt. Inzwischen macht man es auch für seltene Krebserkrankungen verantwortlich. Aber nicht nur das: Die jüngste Forschung gibt Hinweise darauf, dass es auch bei der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) eine Rolle spielen könnte. Auch die Infektion mit anderen humanen Herpesviren soll angeblich alles andere als harmlos sein. Werden Herpesviren bislang unterschätzt?
Nahezu die gesamte menschliche Bevölkerung ist mit dem humanen Herpesvirus 4 (HHV-4), besser bekannt als Epstein-Barr-Virus (EBV), infiziert. Die Durchseuchungsrate liegt im Erwachsenenalter bei über 95 Prozent. Sobald das Virus in den Körper eindringt, beginnen die B-Lymphozyten des Immunsystems damit, entsprechende Antikörper zu produzieren, um den Eindringling zu bekämpfen. Normalerweise gelingt es dem Immunsystem den Erreger in Schach zu halten, sodass die Infektion in vielen Fällen unbemerkt abläuft. Vollständig beseitigen kann es das Virus aber nicht, denn in seiner Latenzphase versteckt sich das Virus ausgerechnet in den B-Zellen selbst. Man vermutet, dass EBV dort das Wachstum der B-Lymphozyten und somit in seltenen Fällen auch die Entwicklung des Burkitt-Lymphoms fördert.
Erst kürzlich hatten Heidelberger Forscher die krebstreibende Wirkung des Virus genauer entschlüsselt. Demnach führt ein bestimmter Proteinbestandteil von EBV zur Chromosomen-Instabilität. In einer Meldung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung befürchtet Prof. Henri-Jacques Delecluse, dass auch weitere Krebserkrankungen in Verbindung mit EBV stehen könnten. Der Pathologe forscht am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ).
Das Team um Delecluse hat nun erstmals einen Impfstoff gegen das Epstein-Barr-Virus entwickelt. „Bisherige Versuche einen Impfstoff zu entwickeln, nahmen insbesondere ein Protein aus der Virushülle ins Visier”, erklärt Delecluse in einer Pressemittelung des DKFZ. „Das bedeutet aber, dass der Impfstoff das Immunsystem nur auf EBV in der lytischen Phase vorbereitet.” Impfversuche, die sich ausschließlich gegen Proteine der latenten Phase richteten, brachten ebenso wenig Erfolg. „Wir wissen, dass sich die Immunantwort bei gesunden EBV-infizierten Menschen gegen Proteine beider Lebensphasen richtet”, sagt Delecluse. „Daher lag es für uns auf der Hand, einen Impfstoff zu entwickeln, der dies berücksichtigt und ebenfalls Antigene aus beiden Phasen enthält.” Im Mausmodell war die Schutzimpfung bereits erfolgreich. Bevor erste Versuche am Menschen folgen, muss der Prototyp aber noch weiterentwickelt und getestet werden.
Der Ruf nach einer Schutzimpfung wurde nicht nur wegen des krebsfördernden Potentials von EBV laut. Seit einiger Zeit vermuten Forscher, dass die Infektion auch das Risiko erhöht, Autoimmunerkrankungen zu entwickeln. Ältere Studien wiesen bereits auf einen Zusammenhang zwischen EBV und Lupus erythematodes hin. Aber auch bei der Entwicklung von MS, Typ-1-Diabetes und rheumatoider Arthritis soll das Virus eine Rolle spielen. Bewiesen ist das bislang noch nicht. Eine Forschergruppe aus den USA entdeckte inzwischen aber einen Mechanismus, der einen Zusammenhang immerhin plausibel macht.
In einer großangelegten Studie wollten die Wissenschaftler vom Cincinnati Children’s Hospital Medical Center herausfinden, wie verschiedene Umwelteinflüsse bakterielle oder virale Infektionen mit dem menschlichen Erbgut interagieren. Diese könnten so möglicherweise auch Auswirkungen auf die Entstehung von Krankheiten haben. Dazu verglichen sie das Erbgut von gesunden und autoimmunerkrankten Probanden. Ein Protein des Epstein-Bar-Virus erregte dabei ihre besondere Aufmerksamkeit.
Das Team vermutet, dass EBV mit seinem Transkriptionsfaktor namens EBNA2 die B-Lymphozyten kontrollieren kann. Mit diesem Protein scheint das Virus sogar auch die Risiko-Gene für verschiedene Autoimmunkrankheiten anschalten zu können. Im Fall von Lupus erythematodes besetzt EBNA2 rund die Hälfte aller Risikogene. Ein ähnliches Muster fanden die Wissenschaftler bei Risikogenen für MS, rheumatoider Arthritis, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Typ-1-Diabetes, juveniler idiopathischer Arthritis and Zöliakie.
Die Studie belegt damit aber noch nicht, dass EBV-Infektionen Autoimmunerkrankungen auslösen. Schließlich könnte die Autoimmunerkrankung auch dazu führen, dass die schlafenden Viren in den B-Zellen aus ihrem Latenzzustand erwachen und sich vermehren. Die hohe Durseuchungsrate in der Bevölkerung spricht zudem dafür, dass es sich um ein Zusammenspiel zahlreicher Faktoren handeln muss. Schließlich entwickelt nicht jeder Infizierte eine Autoimmunkrankheit.
Eine australische Studie scheint dennoch den Zusamenhang zwischen EBV und MS zu bestätigen. Das Team um Rajiv Khanna vom QIMR Berghofer Medical Research Institute in Australien untersuchte in einer ersten klinischen Phase-1-Studie, ob man MS-Patienten mit einer EBV-spezifischen Immuntherapie erfolgreich behandeln könnte.
Dazu extrahierten sie T-Zellen aus dem Blut von fünf Patienten mit primär progressiver MS und fünf Patienten mit sekundär progressiver MS. Diese T-Zellen programmierten die Wissenschaftler in vitro so um, dass sie EBV-Proteine erkennen und dadurch das Virus bekämpfen konnten. Die trainierten T-Zellen injizierten die Wissenschaftler anschließend in vier steigenden Dosen zurück ins Blut der Patienten.
Von den zehn Teilnehmern konnte bei sieben durch die Immuntherapie eine Verbesserung der neurologischen Symptome erreicht werden. Sie berichteten über bessere Konzentrationsfähigkeit, Sehvermögen, Körperbalance sowie eine insgesamt gestiegene Lebensqualität. Bei vier Probanden konnte sogar das MS-assoziierte IgG gesenkt werden. Nebenwirkungen traten bei keinem der Probanden auf. Das Team plant für dieses Jahr weitere klinische Studien. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen, wäre das nicht nur eine erste Therapie der progressiven MS, sondern verhärtet auch den Verdacht, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen EBV und MS existiert.
Andere humane Herpesviren scheinen nicht weniger harmlos zu sein. Das Herpes-simplex-Virus 2, Auslöser des Genitalherpes, soll eine Rolle bei der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) spielen: Einer Studie zufolge steigert die Infektion mit dem Herpes-simplex-Virus 2 in der Frühschwangerschaft das Risiko für die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung bei den männlichen Nachkommen.
Das humane Herpesvirus 6 (HHV-6) wird wiederum mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht. HHV6 ist Erreger des Dreitagefiebers, einer in der Regel selbstlimitierend verlaufenden fieberhaften Erkrankung des frühen Kindesalters. In einer Kohortenstudie konnten Forscher im Gehirn von verstorbenen Alzheimer-Patienten eine erhöhte Zahl von humanen Herpesviren 6A und 7 (HHV6A und HHV7) nachweisen, verglichen mit Gehirnen von Gesunden.
Dr. Bhupesh Prusty, Virologe am Institut für Virologie und Immunbiologie an der Universität Würzburg erklärt, auf welche Weise die Viren bei der Entstehung neurologischer Erkrankungen involviert sein könnten: „Die verschiedenen Herpesviren haben unterschiedliche Arten der Latenz entwickelt. HHV6 beispielsweise schleust seine DNA bevorzugt in die Telomere der Chromosomen ihrer Wirte ein. Dadurch kann das Virus sogar vererbt werden. Rund 0,2 Prozent der Menschen tragen ein bis zwei Kopien des viralen Genoms in jeder ihrer kernhaltigen Zellen.“ Diese latenten Viren seien an sich erstmal kein Problem. „Wenn es aber zu einer Aktivierung der Viren kommt – z.B. durch Stress, dann kann das die infizierte Zelle erheblich beeinflussen und zum Tod der Zelle führen. Bei Zellen des Blutes, die schnell ersetzt werden, ist das wahrscheinlich eher unproblematisch. Eine virale Aktivierung in Neuronen, die zum Zelltod führt, hat aber sicherlich einen großen Einfluss.“ Es könne mit einer virusbedingten Neuroinflammation beginnen und sich über eine lange Zeit zu einer spezifischen Erkrankung entwickeln.
Dr. Prusty selbst hat in einer Studie Hinweise dafür gefunden, dass HHV6 an der Entstehung von Depressionen und bipolaren Störungen beteiligt sein könnte. In Gehirnbiopsien von Erkrankten fand das Team um Prusty eine auffällig hohe Infektionsrate mit HHV-6A und B, insbesondere in den sogenannten Purkinje-Zellen des Kleinhirns. Dieser Teil ist in erster Linie für motorisches Lernen zuständig, beeinflusst aber auch Gefühle, Wahrnehmung, Gedächtnis und Sprache. Nun müsse dieser Zusammenhang noch auf Ebene der molekularen Mechanismen nachgewiesen werden, so der Virologe.
Er ist der Meinung, dass Herpesviren immer noch extrem unterschätzt werden: „Viele Ärzte und Wissenschaftler finden es schwer, zu glauben, dass HHV-6 mehr als nur das Dreitagesfieber auslösen kann. Doch der Fall EBV zeigt, dass Herpesviren auch bei anderen Erkrankungen eine große Rolle spielen können. Schließlich nahm man früher auch an, dass es sich beim Epstein-Bar-Virus um ein harmloses Virus handelt. Aber inzwischen wissen wir, dass das Virus nicht nur häufig auftritt, sondern auch Krebs auslösen kann.“
Es muss zwar noch einige Forschungsarbeit geleistet werden, um die zahlreichen Hinweise zu bestätigen. Doch die jüngsten Ergebnisse lassen vermuten, dass man sich von der Vorstellung von „schlafenden“ und damit harmlosen Herpesviren verabschieden muss.
Bildquelle: CDC/Dr. Paul M. Feorino, Wikimedia Commons