Ankunft am Unfallort: Der Verunglückte ist ein Motorradfahrer. Reglos liegt er da, den Helm auf den Kopf. Unbedingt drauf lassen, sonst beschädigt man möglicherweise das Rückenmark. Oder?
Auf Twitter wurde diese Frage gestellt und viel diskutiert. Das Erschreckende an der Twitter-Umfrage: Ganze 45 Prozent halten den Helm für unantastbar.
Dabei ist es die denkbar schlechteste Option, den Kopf im Helm zu lassen. Warum erläutere ich weiter unten im Text. Vorher muss offensichtlich noch mit einem anderen Mythos aus dem Erste-Hilfe-Kurs aufgeräumt werden: Die stabile Seitenlage rettet keine Leben!
Twitter-Post vom 07. Januar 2019:
Stabile Seitenlage: Die Rettung für den Ersthelfer
Ersthelferkurse. Meist finden sie samstags statt, der Kundenstopper vor der Apotheke macht darauf aufmerksam. Rauf in die zweite Etage, dritte Tür links, nehmen Sie Platz, bitte, danke.
Und dann geht es los. Wie war der richtige Druckpunkt für die Reanimation nochmal? Zwischen den Brustwarzen, dann vier Finger rauf oder doch drei runter? Meine Finger oder die vom Patienten? Ach so, einfach in der Mitte? Bei Kindern auch? Und wenn das weh tut? Und wenn ich eine Rippe breche?
In dem ganzen Wirrwarr kommt dann die Erlösung: die stabile Seitenlage. Die ultimative Entschuldigung für alle, die nicht mehr wissen, was sie genau machen sollen. Ab in die stabile Seitenlage mit dem Patienten.
Auf der Seite liegen hilft keinem Toten
Wenn ich jemanden finde, der gerade stirbt? Lege ich ihn einfach in die stabilie Seitenlage. Das sieht super aus und klingt auch noch gut. Stabil – da denkt man an ein stahlverzinktes Schwerlastregal. 112, Seitenlage, fertig.
Im Fernsehen sieht man das ständig, dann muss es ja richtig sein.Wenn es da nicht ein großes Problem gäbe: Bewusstlose Menschen haben so gut wie immer ein erhebliches Kreislaufproblem, um nicht zu sagen, die meisten sind tot und eben nicht bewusstlos.
Die stabile Seitenlage ist für Menschen gedacht, die mit stabilen (sic!) Kreislaufverhältnissen und eigener Atmung eigentlich so aussehen, als wenn sie schlafen würden. Ihnen fehlen aber die sogenannten Schutzreflexe. Der Schutzreflex setzt beispielsweise ein, wenn wir einen Schluck Wasser in die Luftröhre bekommen. Wir können gar nicht anders, als diesen hochzuhusten.
Bewusstlos und ohne stabilen Kreislauf
Wenn also ein Bewusstloser, der diese Schutzreflexe nicht mehr hat, auf dem Rücken liegen bleibt und erbricht, dann macht es kurz schwapp! und die ganze Soße läuft in die Luftröhre, in die Lunge und der Bewusstlose erstickt daran. Die Idee ist also, dass man den Bewusstlosen auf die Seite dreht, sodass noch zu Erbrechendes den Weg nach draußen findet.
Ein eher theoretisches Szenario. Denn die meisten Bewusstlosen, die man so da draußen findet, sind nämlich deswegen bewusstlos, weil sie keinen Kreislauf mehr haben. Die sind reanimationspflichtig, müssen also wiederbelebt werden.
Keine Herzdruckmassage auf dem Brustkorb anzufangen und nur die 112 zu wählen und den Patienten in die stabile Seitenlage zu bringen, ist schlicht und ergreifend sinnlos.
Immer die Atmung überprüfen
Die stabile Seitenlage ist ebenso wie das völlig überschätzte Dreiecktuch über Jahrzehnte in die übermüdeten Gehirne gelangweilter Teilnehmer der Ersthelferkursen eingetrichtert worden.
Das Problem: Was ursprünglich mal als Hilfe gedacht war, führt dazu, dass gut gemeinte Maßnahmen – oder auch die bewusste Unterlassung von Maßnahmen – dazu führt, dass tote Menschen nicht als solche erkannt werden und keine Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet werden.
Keine oder komische Atmung? Dann 112 wählen und mit der Herzdruckmassage starten. Keine Ausreden. Es ist so einfach und es ist so hilfreich.
Stabile Seitenlage raus aus dem Programm
Am Ende gehen die meisten Teilnehmer aus dem Kurs und sind völlig verwirrt, zu viele Details und Ausnahmen. Lieber nichts machen, bevor ich irgendwas falsch mache.
Würden wir uns bei einem brennenden Weihnachtsbaum auch so verhalten? Kein C-Rohr im Haus? Kein Schaumwerfer griffbereit? Dann rufen wir lieber die 112 an und warten auf die Profis?
Nein, natürlich würden wir losrennen und einen Eimer Wasser drüber kippen, wir würden im Erstangriff vielleicht die Blumen aus der Vase reißen und das olle Blumenwasser drüberschütten. Wir würden versuchen lieber irgendwas zu machen, bevor wir nichts tun.
Die Einstellung sicherheitshalber mal nichts zu unternehmen, kommt dabei raus, wenn man erste Hilfe zu kompliziert macht und da müssen wir anpacken. Ich finde, wir sollten die stabile Seitenlage gar nicht mehr unterrichten, sie ist in sehr seltenen Fällen wirklich nützlich und am Ende verwirrt sie die Teilnehmer nur.
Und wie war das jetzt nochmal mit dem Helm?
Und nun zur Helmfrage: Wenn man den Versuch macht, im Internet nachzugucken, ob man den Helm beim verunfallten Motorradfahrer abnimmt, bekommt man erstmal nicht die Antwort auf das Ob, sondern darauf, wie man den Helm abnimmt.
Das wird wiederum schnell kompliziert und überhaupt könnte da ja was gebrochen sein und dann, ja dann … (hier mahnend-fuchtelnden Zeigefinger einfügen), wenn man den Helm jetzt falsch abnähme, dann macht man dem Verunglückten das Genick kaputt. Rollstuhl olé, dank falscher Ersthelfermaßnahme.
Das ist großer, ausgemachter Blödsinn! Und jetzt nochmal für alle zum mitsingen: Der Helm muss ab! Immer? Ja, immer.
Wer seinen Helm nicht abnimmt, ist bewusstlos
Der Hintergrund ist ganz einfach: Grundsätzlich wird ein Motorradfahrer immer seinen Helm selbst abnehmen. Wenn er es noch kann.
Wenn nicht, dann muss es diesem Motorradfahrer schon ziemlich schlecht gehen. Und so hat sich auch ganz von selbst erklärt, welche Patientengruppe am allermeisten von der Helmabnahme durch den Ersthelfer profitiert: Die mit eingeschränktem Bewusstsein oder nicht ausreichender Atmung.
Der Helm muss ab – so einfach ist das. Nur wenn der Helm ab ist, lässt sich beurteilen, ob der Verunfallte noch atmet, ob vielleicht sogar Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet werden müssen.
Myelon: Meist beim Aufprall zerstört
Ich hoffe nicht, dass in Erste-Hilfe-Kursen noch das Märchen von der Querschnittslähmung durch eine unachtsame Helmabnahme erzählt wird. Das ist grober Unfug und gefährdet Menschenleben!
Ein Unfall, der ausreicht den Knochen zu zerstören, hat so viel Energie, dass das geleeartige Myelon des Rückenmarks so gut wie immer direkt beim Aufprall mitzerstört wird.
Bereits vor mehreren Jahren wurde die Diskussion angestoßen, ob der routinemäßige Einsatz einer Cervicalstütze in der Notfallmedizin sinnvoll ist. Die Entwicklung geht selbst hier eher in Richtung eines zurückhaltenden und sorgsam reflektierten Umgangs mit der komplexen und zeitaufwändigen Immobilisation der Wirbelsäule, die außerdem mit teils erheblichen Nebenwirkungen einhergeht.
Knochen kaputt, Rückenmark heil?
Ein Knochen ist sehr stabil. Es braucht einiges an kinetischer Energie, einen Knochen zu zerstören. Dass die geleeartige Masse im Kochen, ziemlich sicher beim Unfall direkt mit zerstört wird, kann man sich gut ausmalen.
Hingegen ist die Vorstellung, dass der Knochen zerstört wird, das Myelon aber unangetastet intakt bleibt, ist eher theoretischer Natur. Für eine Querschnittslähmung reicht übrigens eine kurzzeitige Quetschung, eine komplette Durchtrennung ist gar nicht nötig.
Wir haben schon Patienten behandelt, bei denen selbst im MRT kein Schaden gesehen wurde, aber klinisch ein eindeutiger Querschnitt bestand, der sich auch nicht mehr zurückbildete.
Unter dem Helm erstickt
Es ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her, dass eine Kollegin von mir eine junge Motorradfahrerin versorgt hat, bei der sie als ersteintreffendes Rettungsmittel vor Ort war. Es waren mehrere Leute an der Unfallstelle, aber niemand hatte den Helm bei der bewusstlosen Fahrerin abgezogen. Sie lag dort völlig unangetastet und im Helm war bereits unter dem Visier nur Erbrochenes zu erkennen.
Bei Ankunft war die Patientin tot, eine spätere Untersuchung ergab, dass keine größeren Verletzungsfolgen vorhanden waren, am ehesten aber von einer Aspiration in Folge der eingetreteten Bewusstlosigkeit ausgegangen werden musste.
Diese junge Frau ist möglicherweise daran gestorben, dass keiner der Umstehenden sich getraut hat, den Helm abzunehmen und ihr einen freien Atemweg zu verschaffen.
Es ist keine Schande mit erster Hilfe überfordert zu sein. Fragt mal in eurer Umgebung nach, ob sie wissen, was bei einem nicht oder komisch atmenden Menschen und mit einem Helm zu tun ist. Wenn Unsicherheiten bestehen, geht zum Auffrischungskurs. Für euch, für eure Mitmenschen. Das kann Leben retten.
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