Um 0:02 Uhr am 1. Januar gehen die Sirenen los, so ist das jedes Jahr. Als ich noch als Notaufnahmeschwester gearbeitet habe, begann der Nachtdienst meist unspektakulär: kleinere Schnittverletzungen beim Salatschnippeln für das Silvesterbuffet, Schnittwunden von zersprungenen Gläsern beim hektischen Spülen grober Männerhände („Das macht sonst meine Frau. Und Sie sehen ja, wo mich das jetzt hingebracht hat“) und die üblichen geriatrischen Geschichten. Zu diesen Feiertagen kommen jene, die es nicht mehr aushalten und die, die einsam sind oder Langweile haben. Bis Mitternacht.
Dann geht es ab. Pünktlich nach zwei Minuten im neuen Jahr. Der Sekt, den wir vor der Notaufnahme trinken wollten, wurde immer schal und warm. Denn spätestens nach dem ersten Schluck bog der erste Rettungsdienst um die Ecke.
Verletzungen, so weit das Auge reicht
Brandwunden, Knalltraumata, Schlägereien, Alkoholintoxikationen, Schnittwunden, abgefetzte Finger, Stürze und wieder von vorne. Ab drei Uhr wird es zunehmend belastend, wenn wieder jemand hackedicht „ein total zauberhaftes, neues Jahr, schönes Fräulein“ wünscht. „Schaunse mal, was ich da gemacht habe ….“, kicher, „sieht das nicht scheiße aus?
Ja, ein Finger weniger, weil der Böller zu spät losgelassen wurde, sieht immer scheiße aus.
Bei einem dieser vielen Silvesterdienste ging die Tür auf und der Rettungsdienst trat im Zweierpack herein. Menschen, in blutiges Mull gehüllt. Den Schuhen nach zu urteilen waren es eher alte Menschen. Mehr war erstmal nicht zu sehen.
Blutiger Mull, alte Schuhe. Brandgeruch. „Also, die Geschichte“, sagte der Mann vom Rettungsdienst, „die bedarf einer kleinen Ausholung.“
Wenn Vorsichtsmaßnahmen nach hinten losgehen
„Die beiden Alten saßen im siebten Stock ihres Hochhauses und waren in Silvesterlaune. Vati hatte sich ein kleines Feuerwerk gekauft. Er ging also kurz vor Mitternacht auf den Balkon, um mit der Knallerei zu beginnen. Weil es kalt war, schloss er die Balkontür. Mutti saß auf der Couch und wollte von innen zusehen.
Um niemanden zu verletzten, wollte er vom 7. Stock nach oben und nach unten schauen – nicht, dass sein Knaller jemanden träfe.
Er beugte sich also über die Brüstung, als von unten eine Rakete hochschoss und haarscharf an ihm vorbei flog. So nah, dass er stark geblendet wurde – er braucht also unter anderem ein augenärztliches Konzil, denn er kann aktuell nicht mehr gut sehen. Der alte Mann erschrak so sehr, dass er zurücktaumelte und mit seinem Kracher in der Hand durch die geschlossene Balkontür stürzte. Dabei fiel ihm der Böller aus der Hand und rollte hinter das Sofa, wo er einen kleinen Schwelbrand verursachte.“
Überall Glassplitter und Schnittwunden
„Die Gattin war ebenfalls mehr als erschrocken, aber dennoch so geistesgegenwärtig, dass sie einen Notruf absetzte. Dann eilte sie dem Gatten zu Hilfe, der mit vielen Schnittwunden auf dem Boden lag und nicht mehr aufstehen konnte. Weil das eine Bein verkürzt ist, vermuteten wir einen Oberschenkelhalsbruch. Während sie ihrem Mann half, zog sich die Frau ebenfalls viele Schnittwunden zu, da überall Glassplitter der zerbrochenen Balkontür herumlagen.“
Der Mann vom Rettungsdienst räusperte sich.
„Also: Zweimal tiefe und oberflächliche Schnittwunden bei beiden, bei der Frau scheinen auch Sehnen durchgesäbelt worden zu sein. Wie auch immer: Die Hand fällt, Verdacht auf Faktur des Oberschenkelhalses bei ihm, Rauchgasvergiftung und jetzt sind sie sehr durcheinander. Verständlich! Sollten sie wider Erwarten nichts haben – der Schlüssel ist bei der Nachbarin. Aktuell ist die Feuerwehr noch vor Ort, wegen des Schwelbrandes. Wir gehen dann mal. Gutes Neues noch!“
Wir waren stundenlang mit der Versorgung der beiden Unglücksvögel beschäftigt.
Silvester – manchmal ist es tragisch, manchmal auch durchaus heiter. Manchmal ist es beides. Manchmal möchte man leise glucksen, weil das Leben so kurios sein kann.
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