Tierversuche sagen vielfach wenig über die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Substanz beim Menschen aus. Neue Methoden, etwa mit Stammzellen oder „Organs-on-Chips“, könnten solche Tests reduzieren. Viele US-Projekte zeigten erste Erfolge. Europa hinkt noch hinterher.
Experimente mit Tieren spielen in der medizinischen Forschung nach wie vor eine zentrale Rolle. Sie kommen in vielen Bereichen zum Einsatz: in der Grundlagenforschung, zur Entwicklung neuer Medikamente und medizinischer Geräte, zur Sicherheitsüberprüfung neuer Wirkstoffe oder in der Genforschung. Doch sie werden nicht nur aus ethischen Gründen kritisiert – zunehmend stellen Forscher auch den Nutzen solcher Experimente in Frage. Um ein wirksames, sicheres Medikament auf den Markt zu bringen, dauert es in der Regel 10 bis 15 Jahre – die Kosten belaufen sich dabei auf mehr als eine Milliarde Dollar. Eine Analyse [Paywall] der letzten 60 Jahre zeigt außerdem, dass es pro investierter Milliarde Dollar immer weniger Substanzen auf den Markt schaffen. Das Hauptproblem liegt darin, dass Substanzen, die in präklinischen Studien – also meist in Tierversuchen – erfolgreich getestet wurden, sich in Versuchen am Menschen als nicht geeignet erweisen. So fallen 92 bis 95 Prozent [Paywall] der Wirkstoffe, die in Tierversuchen erfolgversprechend erscheinen, in Studien am Menschen durch. Die Hauptgründe dafür sind fehlende Wirksamkeit – in etwa 40 Prozent der Fälle – und Probleme mit der Sicherheit des Wirkstoffs – bei etwa 20 Prozent. Dramatische Ereignisse, bei denen solche Medikamente in ersten Tests am Menschen zu gravierenden Nebenwirkungen führen, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs: Etwa, als im Januar dieses Jahres beim Test eines Schmerzmittels in Frankreich ein Mensch starb und fünf zum Teil schwere Hirnschäden erlitten. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 2006, als in London sechs Männer nach einem Arzneimitteltest mit Antikörpern auf der Intensivstation behandelt werden mussten. Beide Male war die getestete Substanz in Tierversuchen als unbedenklich eingestuft worden.
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Tiere häufig keine geeigneten „Modelle“ sind, mit denen sich Prozesse beim Menschen simulieren lassen. Vieles funktioniert bei ihnen anders: etwa die Organe, der Stoffwechsel oder das Immunsystem. So sagen Ratten und Mäuse nur zu 43 Prozent die Giftigkeit einer Substanz beim Menschen vorher, schreibt der Pharmakologe Thomas Hartung von der John Hopkins University in Baltimore (USA), der auch eine Zweitprofessur an der Universität Konstanz innehat. Auch die Mechanismen bei Krankheiten – die bei Versuchstieren künstlich induziert werden, um Medikamente zu testen – können sich von denen beim Menschen deutlich unterscheiden. All das führt dazu, dass unverhältnismäßig viele Versuchstiere benötigt werden. Die Zahl der Tiere, die für wissenschaftliche Experimente verwendet werden, ist auch in Deutschland nach wie vor hoch: Im Jahr 2014 wurden laut Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) über zwei Millionen Tiere für Tierversuche eingesetzt, weitere 790.000 wurden getötet und für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Am häufigsten sind dies Mäuse und Ratten (zusammen 78 Prozent), am zweithäufigsten Fische (10 Prozent). Hunde, Katzen, Affen und Halbaffen machen zusammen unter 0,5 Prozent der Versuchstiere aus.
Allerdings gibt es sowohl in den USA als auch in Europa zunehmend Bestrebungen, Tierversuche wenn möglich durch alternative Methoden zu ersetzen. Dabei wird häufig das 3R-Prinzip zugrunde gelegt: Tierversuche sollen wenn möglich vermieden („replace“), die Zahl der Versuchstiere reduziert („reduce“) und das Leiden der Tiere vermindert („refine“) werden. In den USA werden solche Bestrebungen durch die die Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit (Food and Drug Administration, FDA) und die National Institutes of Health (NIH) koordiniert. So strebt die Initiative „Toxicology Testing in the 21st Century“ [Paywall] an, die Giftigkeit von Substanzen auch ohne Tierversuche zu bestimmen. In diesem Rahmen ist eine Reihe von Projekten entstanden, etwa „Tox21“, bei dem tausende von Substanzen in Hochdurchsatz-Screenings getestet werden, oder das „NIH Human Toxome Project“, das einen Gesamtkatalog der Schädigungsmechanismen durch Chemikalien beim Menschen erstellen soll. Auch andere innovative Methoden und Technologien könnten in Zukunft dazu beitragen, Tierversuche zu ersetzen oder zumindest zu reduzieren: Die Forschung mit menschlichen Zellkulturen und Stammzellen, die Nachbildung von Organen oder Organismen auf einem Mikrochip („Organs- on-Chip“), Ansätze der Bioinformatik, die Daten aus verschiedenen Experimenten kombinieren oder modernebildgebende Verfahren, die Mechanismen auf der Ebene von Molekülen und Zellen abbilden können. Solche Verfahren könnten nicht nur die Zahl der Versuchstiere reduzieren. Sie könnten auch die Wirkungen und Gefahren einer Substanz beim Menschen wesentlich genauer vorhersagen.
In Deutschland gibt es mehrere Institutionen, die Alternativen zum Tierversuch fördern. So wurde im September 2015 das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) eröffnet. Auch das „Zentrum für Alternativen zum Tierversuch in Europa“ (CAAT-Europe) an der Universität Konstanz hat sich zum Ziel gesetzt, wissenschaftlich fundierte Alternativverfahren zu Tierexperimenten zu etablieren. „Deutschland hat neben England und den Niederlanden die stärkste Förderung für Ersatzmethoden in Europa“, sagt Hartung, der CAAT-Europe als Co-Direktor leitet. „In den USA gibt es allerdings eine Reihe von Großprojekten, die zu ersten Erfolgen beim Ersatz von Tieren geführt haben. Hier hinken Deutschland und Europa noch hinterher. Es fehlt vor allem an einer übergeordneten Institution, die die Maßnahmen strategisch koordinieren könnte – zum Beispiel zwischen Wissenschaft und Politik.“ In einigen Bereichen ist es bereits gelungen, Tests an Tieren (weitgehend) durch andere Methoden zu ersetzen, etwa bei Tests auf Haut- oder Augenreizungen. So werden in Europa bei der Verträglichkeitsprüfung von Kosmetika seit 2013 keine Tierversuche mehr durchgeführt. Auch ein Medikament gegen resistente Tuberkulose-Keime wurde gänzlich ohne Tierversuche entwickelt. „Bisher wurden etwas mehr als 50 Tests als Ersatzmethoden für Tierversuche validiert, hauptsächlich im Bereich der Sicherheitsprüfung“, erläutert Hartung. „Auch in der Pharmaforschung werden zunehmend Methoden eingesetzt, die keine Tiere verwenden: Hier ging die Zahl der Versuchstiere in Europa in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent zurück.“
Allerdings gibt es immer noch Bereiche, in denen Tierversuche eingesetzt werden, obwohl ihr Nutzen fragwürdig ist. So kommt der Pyrogentest bei Kaninchen, mit dem Entzündungsreaktionen untersucht werden, inzwischen zwar seltener zum Einsatz – doch trotz alternativer Möglichkeiten wird er immer noch häufig genutzt. Auch die krebserregende Wirkung von Substanzen wird aus Mangel an Alternativen weiterhin im Tierversuch getestet – obwohl dies kaum etwas über das Krebsrisiko beim Menschen aussagt. „Viele Versuchstiere werden auch verwendet, um menschliche Gene einzusetzen und so Erkrankungen, die nur beim Menschen vorkommen, nachzubilden“, erläutert Horst Spielmann, Professor für Pharmakologie an der Freien Universität (FU) Berlin und Tierschutzbeauftragter des Landes Berlin. „Solche Modelle haben aber für die Wirkung einer Behandlung beim Menschen oft eine geringe Aussagekraft.“ Auf der anderen Seite gibt es Fragen, die man bisher nur im Tierversuch untersuchen kann. „Wenn ein Tier über längere Zeit behandelt wird, um alle möglichen Effekte zu betrachten und so die chronische Toxizität zu untersuchen, ist das sehr schwer durch Alternativen zu ersetzen“, sagt Thomas Hartung. Auch Verhaltenseffekte könne man kaum in Zellkulturen, sondern nur am lebenden Tier beobachten. „Möglicherweise wird es auch neue Forschungsbereiche geben, in denen sich Tierversuche als die geeignetste Methode erweisen. Auf Tierversuche ganz zu verzichten, ist daher wissenschaftlich unseriös“, sagt Spielmann. Dennoch sollte es das erklärte Ziel von Forschung und Politik sein, Tierversuche wann immer möglich durch alternative Methoden zu ersetzen, betont der Tierschutzexperte. Originalpublikation: Evolution of Toxicological Science: The Need for Change Thomas Hartung