Forscher der Universitätsmedizin Göttingen beschreiben einen bisher unbekannten Mechanismus im Zusammenhang mit Multipler Sklerose. Gegen Hirngewebe gerichtete Autoantikörper könnten hierbei Hinweise auf neue diagnostische und therapeutische Ansätze liefern.
Bestimmte Immunzellen, die T-Zellen, stehen bislang im Fokus von Behandlungsstrategien gegen die entzündliche Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS). Forscher der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) haben nun immunologische Erkenntnisse gewonnen, die alternative Ansatzpunkte für eine Behandlung von MS eröffnen könnten. In einem Tiermodell der MS konnten die Göttinger Forscher einen bisher weitgehend unbeachteten Mechanismus des Immunsystems aufzeigen. Dieser beruht auf der Wirkung von Autoantikörpern und kann die entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) einleiten und verstärken. Zur Rolle von Autoantikörpern war man bislang davon ausgegangen, dass diese direkt Schaden im Nervengewebe anrichten, indem sie entzündlich angegriffene Gewebestrukturen weiter zerstören und damit eine bestehende Erkrankung verstärken. Die Forscher weisen auf eine zusätzliche, krankheitsauslösende Rolle von Autoantikörpern bei MS hin, die für diagnostische, vor allem aber für therapeutische Ansätze von entscheidender Bedeutung sein könnte. „Aus unseren Arbeiten wird klar, dass Autoantikörper den Entzündungsprozess im Nervensystem einleiten und verstärken können, indem sie körpereigene Strukturen in Fresszellen konzentrieren und somit für T-Zellen sichtbar machen. So würde der Nachweis von bestimmten Autoantikörpern auf ein Risiko hinweisen, Erkrankungsschübe zu entwickeln. Dies könnte hilfreich sein für eine rechtzeitige Veranlassung besonderer Vorsichtsmaßnahmen“, sagt Seniorautor der Publikation in „Acta Neuropathologica” Prof. Dr. Martin S. Weber. Das entscheidende therapeutische Potential der neuen Befunde aus Göttingen dürfte nach Ansicht der Forscher jedoch darin liegen, dass eine definierbare Gruppe von Patienten, die Autoantikörper besitzen, wahrscheinlich eine auf diese Autoantikörper gerichtete Therapie erhalten sollten.
Warum können T-Zellen ausgerechnet Hirngewebe angreifen, das normalerweise über effiziente Schutzmechanismen verfügt und sich gegenüber Immunzellen abschottet? Diese wichtige Frage über die Krankheitsentstehung der MS ist noch weitgehend unbeantwortet. Der von den Göttinger Forschern entdeckte Immunmechanismus könnte erklären, wie T-Zellen auf das Hirngewebe aufmerksam gemacht werden und eine Immunreaktion einleiten können. „Interessanterweise können T-Zellen nicht direkt gegen Eindringlinge reagieren. Wahrscheinlich hat die Natur als Schutzmechanismus vorgesehen, dass dieser unter Umständen folgenschweren T-Zellaktivierung ein Kontrollschritt vorgeschaltet ist. Wie dieser im Detail abläuft, haben wir uns genau angeschaut – und dann danach gesucht, wie sich die Situation bei der Multiplen Sklerose ändert“, sagt Priv.-Doz. Dr. Fred Lühder, einer der Seniorautoren der Publikation im Journal „Proceedings of the National Academy of Sciences USA“. Bereits bekannt ist: Bevor es überhaupt zu einer Aktivierung von T-Zellen kommen kann, müssen potentielle Schädlinge, z.B. Bakterien oder Tumorzellen, zunächst von Fresszellen aufgenommen und verdaut werden. Besteht keine Gefahr, werden die T-Zellen ruhig gestellt. Verständlicherweise sollte letztere Konstellation bei körpereigenem Gewebe vorliegen. Es gibt zwar bei allen Menschen einige T-Zellen, die potentiell auch mit eigenem Körpergewebe reagieren, aber ohne entsprechende Alarmsignale werden diese nicht aktiviert, und es kommt deshalb auch zu keiner Autoimmunattacke.
Nach den neuen Erkenntnissen der Göttinger Forscher spielt eine weitere Komponente des Immunsystems eine entscheidende Vermittlerrolle bei der Aufnahme von Hirngewebe durch Fresszellen. Es handelt sich dabei um durch andere Immunzellen (B-Zellen) gebildete Antikörper, die neben ihren Funktionen in der Immunabwehr auch als „Autoantikörper“ wie T-Zellen gegen eigenes Gewebe gerichtet sein können und direkt an körpereigene Zielstrukturen binden. In einem Modell der MS mit potentiell gegen Hirngewebe gerichteten T-Zellen entdeckten die Forscher, dass allein die Zugabe von gegen Hirngewebe gerichteten Autoantikörpern eine starke Aktivierung der T-Zellen und in der Folge eine fulminante Entzündung des ZNS auszulösen vermag. Was dabei im Detail abläuft, konnten sie in verschiedenen Modellsituationen aufzeigen: Autoantikörper banden zunächst Zellfragmente mit entsprechenden Zielerkennungsstrukturen. Diese mit Autoantikörpern dekorierten Strukturen wurden sehr begierig von Fresszellen aufgenommen, verdaut und dann als Selbstgewebspeptide den T-Zellen präsentiert. „Dieser Schritt hat entscheidende Konsequenzen für die Erkennung von Selbstgewebe durch T-Zellen und deren anschließende Aktivierung“, sagt Prof. Dr. Alexander Flügel vom UMG. „Autoantikörper können also als eine Art Marker fungieren. Frei herumschwimmende Selbstgewebsfragmente machen sie so den Fresszellen geradezu erst „schmackhaft“. Gleichzeitig wirken die Autoantikörper als „Sammler“, indem sie die relativ seltenen Bruchstücke von Hirngewebe in den Fresszellen konzentrieren.“ Originalpublikation: Autoantibody-boosted T cell re-activation in the target organ triggers manifestation of autoimmune CNS disease Anne-Christine Flach et al.; Proc. Nat. Acad Sci USA, doi: 10.1073/pnas.1519608113; 2016