Die Anzahl psychisch Erkrankter steigt seit Jahren, ebenso der Bedarf an therapeutischer Hilfe. Die Regierung hat vor einem Jahr auf den Notstand reagiert und eine Reform erlassen. DocCheck fragte nach: Werden Patienten nun tatsächlich besser versorgt?
Die Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen wird in Deutschland von vielen kritisiert: Patienten müssen lange warten, wenn sie einen Termin für ein Erstgespräch benötigen und erst recht, wenn es um den Beginn der eigentlichen Therapie geht. Und die Wartezeiten steigen seit Jahren. Schließlich zogen Politiker die Reißleine. Sie reagierten mit einer umfassenden Strukturreform der psychotherapeutischen Versorgung, die zum 1. April 2017 in Kraft trat. In einem Übersichtsbeitrag fasst die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) wichtige Änderungen zusammen:
„Was durch die Gesetzesänderung der Bundesregierung besser funktioniert, ist, dass Patienten früher einen Termin für das sogenannte Erstgespräch zur Abklärung und Beratung bekommen“, sagt Michael Ruh, Psychologischer Psychotherapeut in Frankenberg und stellvertretender Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV). „Zudem hat sich nun auch verbessert, dass Patienten, bei denen ein akuter psychotherapeutischer Behandlungsbedarf besteht, schneller versorgt werden, indem ihnen eine neue, zeitnahe Behandlung ermöglicht wird. Im Durchschnitt passiert dies inzwischen in einem Zeitraum von maximal vier Wochen.“
„Neben dem schnelleren Erstgespräch und der Akutbehandlung haben sich durch die neue Gesetzeslage die Wartezeiten für eine längere Richtlinienpsychotherapie allerdings nicht geändert“, sagt Ruh. „Durch die notwendige Vorbereitung auf die Psychotherapie und das Genehmigungsverfahren dauert es vom Zeitpunkt der Terminvereinbarung für das Erstgespräch etwa weitere acht bis zehn Wochen, bis eine Therapie beginnen kann.“ Natürlich unterscheide sich die Wartezeit von Patient zu Patient, je nachdem, was vorliege, so der Psychotherapeut: „Manchmal kann es auch etwas länger dauern. Gemeinsam mit dem Patienten muss in der Therapievorbereitung geklärt werden, welches Verfahren geeignet ist, welche Therapieziele angestrebt werden sollen und ob Therapeut und Patient miteinander arbeiten können.“ Der tatsächliche erste Behandlungstermin stelle sich erst im weiteren Verlauf der Abklärung und nach einer vertieften Differenzialdiagnostik heraus, sagt Ruh.
Michael Ruh, Psychologischer Psychotherapeut. Auch im Bundestag machen sich Zweifel am Mehrwert des Maßnahmenpakets bemerkbar. Vor wenigen Monaten hatte die Fraktion Bündnis90/Die Grünen in einer Kleinen Anfrage bezweifelt, dass die Reform tatsächlich gegriffen habe und die Regierung nach Ergebnissen gefragt. Der „Andrang von Anfragenden bei den Terminservicestellen zeigt die Versorgungslücken in der Psychotherapie deutlich auf“, so die Grünen. Tatsächlich fallen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) im zweiten Quartal 2017 rund 40 Prozent aller Vermittlungen von Arzt-Terminen durch die Krankenkassen in den Bereich Psychotherapie. Diese seien damit „aus dem Stand zur meistvermittelten Gruppe aufgestiegen“, so die KBV: Im dritten Quartal habe der Anteil der an Psychotherapeuten vermittelten Termine bei 43,2 Prozent gelegen, gefolgt von den Nervenärzten mit 21,5 Prozent. Diese Zahlen verdeutlichen, dass ein Engpass besteht, aber auch, dass die neuen Regelungen greifen. So hatte die Bundesregierung auf die Kleine Anfrage geantwortet, die Versorgungslage für psychisch kranke Patienten habe sich durch gesetzliche Reformen deutlich verbessert. Laut KBV seien von 1. April 2017 bis 31. Dezember 2017 rund 68.000 Vermittlungswünsche an die Terminservicestellen gerichtet, heißt es. 60.000 seien innerhalb der Vier-Wochen-Frist erfolgreich vermittelt worden – dies entspreche einer Quote von 87,4 Prozent. Nicht erfolgreich waren der Regierung zufolge Termine für eingeschränkt mobile Patienten, solche, die einen bestimmten Wunschtherapeuten hatten oder die auf Rückruf keinen Termin mehr benötigten.
Ein weiterer Kritikpunkt ist nach wie vor die regional sehr unterschiedliche Versorgung. „Die neue Richtlinie hat nichts an dem Problem geändert, dass es in manchen Regionen einfach nicht genug Behandlungskapazitäten gibt“, sagt Ruh: „Insbesondere im Ruhrgebiet und im ländlichen Bereich übersteigt die Nachfrage nach wie vor das Angebot.“ Die Engpässe dürften sich sogar zuspitzen, so die Grünen: Wegen der neuen Angebote wie Sprechstunde und Akutbehandlung bleibe weniger Zeit für die klassische Richtlinientherapie. Dies sieht auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), die Anfang des Jahres bis zu 4.000 Neuzulassungen auf dem Land forderte: Obwohl epidemiologische Daten belegten, dass der Bedarf nahezu gleich sei, gebe es in Ballungszentren rund 36 Therapeuten pro 100.000 Einwohner, während es auf dem Land teilweise nur etwa 13 seien. Verantwortlich sei der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA): Er hatte bereits „den gesetzlichen Auftrag, bis Ende 2016 insbesondere die ambulante psychotherapeutische Versorgung zu verbessern. Bis jetzt hat er diesen Auftrag nicht umgesetzt“, so die BPtK in einer Pressemitteilung. Tatsächlich wurde der G-BA schon 2015 mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz dazu verpflichtet, die regionale psychotherapeutische Bedarfsplanung bis 2017 zu untersuchen. Ein entsprechendes Gutachten gibt es bis heute aber nicht. Die Regierung wiegelt ab: „Die inhaltliche Priorisierung bei der Umsetzung des Auftrags sei Aufgabe des G-BA, das Bundesgesundheitsministerium (BMG) werde weiterhin darauf drängen, dass der gesetzliche Auftrag zeitnah umgesetzt wird“, heißt es.
„Die Reform der Bedarfsplanung und die des Kapazitätsproblems bleibt also weiter offen“, fasst Ruh zusammen. „Außerdem gibt es keine vernünftigen Möglichkeiten zur Anschlussbehandlung nach abgeschlossener Therapie, bei Patienten, bei denen dies indiziert ist.“ Diese Dinge seien ungünstig, so der Psychotherapeut. Im Wesentlichen aber könne man mit den aktuellen Richtlinien zufrieden sein.