Deutschlands Bürger nutzen das Web stärker denn je, falls sie Fragen zu ihrer Gesundheit haben. Trotzdem ist es um ihre Gesundheitskompetenz schlecht bestellt. Das will Hermann Gröhe ändern. An Apotheker denkt er nur am Rande.
Was steckt hinter einer seltsamen Hautveränderung, hinter pochenden Kopfschmerzen oder Beschwerden beim Sport? Patienten gehen nicht sofort zu ihren Arzt oder Apotheker, sondern suchen Rat im Web. Das berichtet der Digitalverband Bitkom auf Basis einer repräsentativen Studie von Bitkom Research. Befragt wurden 783 Internetnutzer ab 14 Jahren.
Besonders häufig recherchierten ältere Menschen im Web zu Krankheitssymptomen. Rund 60 Prozent aller User ab 65 Jahren gaben an, sich bei Symptomen mindestens einmal online informiert zu haben. In der Gruppe zwischen 50 und 64 waren es 52 Prozent, bei den 30- bis 49-Jährigen 51 Prozent, und bei den 14- bis 29-Jährigen 55 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass Online-Medien heute in jeder Altersgruppe angekommen sind. Von allen interviewten Frauen haben schon 61 Prozent Anzeichen einer Erkrankung gegoogelt, bei den Männern sind es 46 Prozent. „Wer einmal eine Online-Recherche zu Krankheitssymptomen gemacht hat, will diesen praktischen Informationsweg offenbar nicht mehr missen“, schreibt Bitkom. Tatsächlich gaben nur 12 Prozent zu Protokoll, erst einmal medizinische Themen online recherchiert zu haben – und dann nie wieder.
Doch der Teufel steckt im Detail. Immerhin nutzen 79 Prozent aller Bürger das Online-Lexikon Wikipedia. Unter den 14- bis 29-Jährigen sind es sogar 92 Prozent. Die deutschsprachige Version der Web-Enzyklopädie beinhaltet mehr als 1,9 Millionen Artikel. Einer älteren Studie zufolge ist das Online-Lexikon sogar zuverlässiger als die Encyclopædia Britannica. Welches Vertrauen haben User in Wikipedia-Content? Quelle: Bitkom Wer nur „googelt“, trennt kaum die Spreu vom Weizen. Bitkom rät deshalb, auf das Impressum zu achten. „Nicht selten finden sich hier einzelne Unternehmen mit speziellen wirtschaftlichen Interessen oder Gruppen, die Meinungen fernab der Schulmedizin und etablierter alternativer Behandlungsmethoden vertreten“, schreibt der Verband. „Ein Abgleich mehrerer Seiten kann im Zweifel helfen einzuschätzen, ob die jeweiligen Informationen glaubwürdig sind.“ Wie viele User diesen Rat beherzigen, ist unbekannt.
In diese Kerbe schlägt jetzt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) bei der Präsentation neuer Zahlen. Forscher befragten 2.000 Menschen über 15 Jahren mit dem etablierten „Health Literacy Questionnaire Europe“. Das Ergebnis überrascht. „Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland hat erhebliche Mühe, sich in der ständig anwachsenden Fülle an Gesundheitsinformationen zurechtzufinden und Entscheidungen für die eigene Gesundheit zu treffen“, sagte Gröhe im Rahmen einer Pressekonferenz. Forscher bewerten bei 7 von 100 Deutschen die Gesundheitskompetenz (Health Literacy, HL) als exzellent, bei 38 von 100 als ausreichend, bei 45 von 100 als problematisch und bei 10 von 100 sogar als inadäquat. Unter dem Begriff „Gesundheitskompetenz“ subsummiert Kristine Sørensen von der Masstricht University das Finden, Verstehen und Umsetzen von Gesundheitsinformationen. Quelle: Schaeffer et al. (i.E.) Health Literacy in Deutschland. In: Schaeffer, Pelikan (Hrsg.): Health Literacy: Forschungssstand und Perspektiven. Göttingen: Hogrefe Schwierigkeiten haben vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, mit geringem Bildungsgrad oder mit hohem Lebensalter. Menschen mit schlechtem HL-Niveau leiden häufiger an chronischen Erkrankungen, nehmen mehr Arzneimittel ein, begeben sich öfter in stationäre Behandlung oder müssen vermehrt den ärztlichen Notdienst konsultieren. Dazu zwei Beispiele: Zirka 45 Prozent aller Deutschen tun sich hart, die Vorteile oder Nachteile einer bestimmten Therapie zu beurteilen. Hierzu gehören IGeL-Leistungen, aber auch alternativmedizinische Behandlungsmethoden wie die Homöopathie. Und 49,3 Prozent haben Probleme, zu beurteilen, wann sie eine ärztliche Zweitmeinung einholen sollten, etwa vor schweren Eingriffen. Daran ändern Online-Ressourcen wenig.
Kein Wunder, dass Hermann Gröhe den schnellen Zugang zu immer mehr Informationen im Web als „Chance und Herausforderung zugleich“ bewertet. Auch er moniert, online ließen sich „neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht immer leicht von werblichen Angeboten und interessengeleiteten Empfehlungen unterscheiden“. Sein Lösungsansatz: „Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Kraftanstrengung von Ärzten, Krankenkassen, Apotheken, Pflege-, Verbraucher- und Selbsthilfeverbänden und Behörden, um das Gesundheitswissen in ganz Deutschland zu verbessern.“ Er setzt voll und ganz auf den „nationalen Aktionsplan“. Das Robert Koch-Institut (RKI) soll eine Erhebung zur Gesundheits- und Patientenkompetenz durchführen. Auf Basis dieser Daten wünscht sich Gröhe bis Ende 2017 von einer neuen Expertengruppe spezifische Maßnahmen. Neben dem AOK-Bundesverband werden sich mehrere Hochschulen am Projekt beteiligen. Ob Apotheker ebenfalls mit an Bord gehen, ist offen. Wenigstens lädt der Minister ABDA-Vertreter im Juni zu Gesprächen ein. Dabei soll es ebenfalls um Gesundheitskompetenzen gehen.