Seit Jahren arbeiten Ärzte mit Critical Incident Reporting-Systemen (CIRS), um Beinahe-Fehler oder echte Katastrophen zu melden. Apotheker aus Nordrhein-Westfalen ziehen jetzt nach. In anderen Kammerbezirken sieht es düster aus.
„Fehlerberichts- und Lernsysteme spielen schon lange eine wichtige Rolle in anderen Hochrisikobranchen wie der Luftfahrt“, sagt Lutz Engelen, Präsident der Apothekerkammer Nordrhein. Über Critical Incident Reporting-Systeme (CIRS) melden Mitarbeiter Vorfälle in ihrem Zuständigkeitsbereich. Dabei geht es nicht um Fragen von Schuld und Verantwortung. Vielmehr sollen Kollegen per CIRS informiert werden, um die Fehlerrate generell zu senken.
Im medizinischen Bereich regelt das V. Sozialgesetzbuch entsprechende Details. An mehreren Stellen fordert der Gesetzgeber interne Systeme zum Qualitätsmanagement. Das geht so: Ärzte oder Pflegekräfte melden einen Vorfall intern per Online-Formular. Für Hausarztpraxen hat sich mittlerweile die Website „Jeder Fehler zählt“ etabliert. Alle Betreiber garantieren, dass keine Daten zur Identifizierung erfasst werden, beispielsweise statische IP-Adressen. Anschließend bewerten Experten die Meldung, anonymisieren falls erforderlich den Text und veröffentlichen alle Fakten im Portal. Weitere Maßnahmen wie arbeitsrechtliche Konsequenzen oder Strafanzeigen gehen mit CIRS-Meldungen nicht einher. Vielmehr geht es um Lernvorgänge der beteiligten Berufsangehörigen unter einem hohen wechselseitigen Vertrauensschutz.
Jetzt profitieren Apotheker ebenfalls von diesem Prinzip. Die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe bieten Kollegen ab sofort das „CIRS Pharmazie NRW“ an. Betreiber ist das Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin. „Denn man muss nicht alle Fehler erst selbst gemacht haben, um aus ihnen lernen zu können“, heißt es zur Notwendigkeit. Inhaltlich geht es um Fehler bei der Arzneimittelabgabe oder bei der Rezeptur. Fachliche Fehleinschätzungen bei der Medikationsanalyse, administrative Pannen oder Kommunikations- und Verständigungsprobleme können ebenfalls per Eingabemaske gemeldet werden. Die Eingabemaske von CIRS Pharmazie NRW. Screenshot: DocCheck
Bereits jetzt finden Apotheker im Portal Berichte zur Teilbarkeit von Digitoxin-haltigen Arzneimitteln, zu technischen Schwierigkeiten mit einem Rezeptscanner oder zu Kommunikationsproblemen mit Migranten. Es geht auch um die Verwechslung von Vitamin B12-Tabletten mit 10 versus 1000 µg, um vermeintlich erkältungsbedingten Husten bei einem Patienten mit gastroösophagealer Refluxkrankheit sowie um Mückenstiche, die sich als Herpes zoster entpuppen. Je mehr Kollegen durch eigene Berichte zum System beitragen, desto häufiger lassen sich Pannen vermeiden. „Beinahe-Medikationsfehler schädigen den Patienten wegen der noch rechtzeitigen Entdeckung nicht, können jedoch zur Entwicklung von Lösungsansätzen beitragen“, sagt Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. „Der offene und konstruktive Umgang mit Fehlern trägt dazu bei, dass aus diesen gelernt wird und Lösungen entwickelt werden können.“ Große Pläne – umso erstaunlicher, dass es keine bundesweiten Lösungen gibt.