Die Zahl der Chlamydien-Fälle steigt. Daran ändern auch Screenings nichts, so das Ergebnis einer australischen Studie. „So, wie das Chlamydienscreening derzeit durchgeführt wird, ist es hinausgeworfenes Geld“, sagt auch ein STI-Experte.
Unlängst wurde die bisher umfassendste Studie zur Chlamydien-Testung von 90.000 Personen in Australien durchgeführt. Basierend auf den Ergebnissen der Studie sehen die Autoren in einem breiten Screening keinen Mehrwert. Es führe nämlich nicht dazu, dass die Zahl der Ansteckungen sinkt. Diese Erkenntnisse legen folgende Frage nahe: Ist das Chlamydienscreening, wie es derzeit in Deutschland angeboten wird, überhaupt sinnvoll?
Unter dem Chlamydienscreening versteht man die Untersuchung einer Urinprobe mittels eines Nukleinsäure-amplifizierenden Tests (NAT). Der Chlamydien-Test ist hierzulande fester Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge, zudem erfolgt auch vor Schwangerschaftsabbrüchen nach Richtlinie eine Untersuchung auf genitale Chlamydia-trachomatis-Infektionen.
Darüber hinaus hat aber prinzipiell jede Frau unter 25 Jahren seit dem Beschluss des G-BA im Jahr 2008 Anspruch auf eine Untersuchung pro Jahr. Um den Nutzen des Angebots einschätzen zu können, muss die Problematik der Ausbreitung sowie der gesundheitlichen Risiken von Chlamydieninfektionen an sich erörtert werden.
Die genitale Chlamydia-trachomatis-Infektion ist eine der häufigsten sexuell übertragbaren bakteriellen Erkrankungen weltweit. Leider wissen das nicht viele. „Was sind Chlamydien? Diese Frage können viele Menschen nicht beantworten“, beschreibt Dr. Norbert H. Brockmeyer das grundlegende Problem. Er ist Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft und leitet WIR – Walk in Ruhr – das Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum.
„Und noch weniger wissen etwas über die gesundheitlichen Folgen einer Infektion“, ergänzt er. Dabei kann eine Infektion mit sexuell übertragbaren Krankheiten (STI) zu Komplikationen in der Schwangerschaft führen. Sehr häufig kommt es wegen Chlamydien zu Frühgeburten oder zu einer vorzeitigen Öffnung des Muttermundes. Besonders fatal: Auch Adnexitis (pelvic inflammatory disease) oder sogar ungewollte Sterilität – sowohl bei Frauen als auch bei Männern – sind mögliche Folgen einer Infektion. Schätzungen zufolge bleiben mehr als 100.000 Frauen in Deutschland durch unbehandelte Chlamydieninfektionen ungewollt kinderlos.
Konkrete Angaben zu Prävalenz und Inzidenz von Chlamydien zu machen, ist unmöglich. Laut RKI bewegen sich die Prävalenzen bei sexuell aktiven jungen Frauen und Männern zwischen 4,4 % und 4,9 %, als Grundlage dienten ältere Studien. Neue Daten des RKI zeigen bei schwangeren symptomlosen Frauen bis zu 10 % Chlamydienprävalenz. Im Rahmen eines deutschlandweiten Chlamydia-trachomatis-Laborsentinels, das 2010 ins Leben gerufen wurde, werden aktuellere Daten gesammelt. Zu fast 2,5 Millionen Chlamydien-Tests wurden auf diese Weise Daten zur Prävalenz aus dem Zeitraum von 2008 bis 2013 erfasst und ausgewertet. Je nach Alter und Bundesland variierten die Positivenanteile der genommenen Proben bei Frauen zwischen 2,8 % im Saarland und 7,3 % in Mecklenburg-Vorpommern. Bei Männern bewegten sie sich zwischen 5,5 % in Sachsen und 16,4 % in Mecklenburg-Vorpommern.
Trotzdem: „Die tatsächliche Infektionsrate kennt niemand, es gibt nur pilotenhafte Prävalenzdaten“, kritisiert Brockmeyer. Bei den Klienten im WIR liegt die Prävalenz zwischen 8 % und 20 % bei symptomlosen Menschen. Er spricht sich deshalb für eine landesweite anonyme Meldepflicht aus. Denn bisher werden Infektionen mit Chlamydien nur im Bundesland Sachsen dokumentiert.
Die Krankheit verläuft bei Männern in etwa 70 % und bei Frauen in etwa 80 % der Fälle asymptomatisch. Dadurch landet nur ein kleiner Teil der Infizierten beim Arzt. Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Für die Diagnose von Chlamydien gibt es nur ein gewisses Zeitfenster. „Chlamydien sind nur eine Zeit lang nachweisbar. Sie steigen nach einer Weile auf, wandern in die Gebärmutter, die Eileiter, die Eierstöcke und bei Männern in Hoden und Prostata“, warnt Brockmeyer. Demzufolge sind deutlich mehr Menschen mit Chlamydien infiziert, als es sich durch Tests nachweisen lässt.
Auch die Behandlung von Chlamydien ist einfach und schwierig zugleich. Besonders im akuten Stadium sind genitale Chlamydien-Infektionen gut therapierbar. Das Mittel der Wahl ist das Antibiotikum Doxycyclin. Doch auch der Zeitraum, in dem die antibiotische Therapie gänzlich erfolgreich gelingt, ist begrenzt. Eine zu spät oder nicht erkannte Infektion kann schwerwiegende Konsequenzen haben: „Zwar zeigen sich keine schweren Symptome, aber es kommt zu Verklebungen der Eileiter, zu tumorähnlichen Gebilden – nicht nur im weiblichen Körper, auch im Samenleiter oder Hoden beim Mann.“
Wie häufig es zu diesen Veränderungen kommt? „Wer weiß das schon, die Zahlen sind hier wirklich dürftig,“ bemängelt Brockmeyer. Solche Verklebungen ließen sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr öffnen, die Folge kann in vielen Fällen ungewollte Kinderlosigkeit sein. „Beratungsstellen bei Kinderlosigkeit zufolge sind 50 bis 60 % der Unfruchtbarkeitsfälle auf Chlamydien zurückzuführen“, sagt Brockmeyer. Der Experte schlägt in diesen Fällen Antikörperuntersuchungen vor. „Wie viele Menschen mit Schwangerschaftskomplikationen Antikörper mit Chlamydien hatten, wäre interessant zu erfahren.“
Es gilt also, Chlamydien so schnell wie möglich zu erkennen und zu behandeln. Hier kommt das Screening ins Spiel. Welche Rolle spielt es? Eine viel zu kleine, findet Brockmeyer. „So, wie das Chlamydienscreening derzeit durchgeführt wird, ist es hinausgeworfenes Geld. Und daran ändert sich nichts, solange nicht Jungen einbezogen, mindestens 60 % erreicht sowie Partner mitbehandelt werden und aus allen relevanten Lokalisationen getestet wird. Zudem müssten Vaginalabstriche anstatt Urinuntersuchungen durchgeführt werden“, kritisiert er. Es folgen drei zentrale Punkte, die in der Diskussion über Chlamydien zu wenig Beachtung finden.
Erstens: Die gewählte Risikogruppe für das Screening scheint alles andere als zeitgemäß. In einer noch nicht veröffentlichten Studie des WIR wurden 236 Probanden im Alter von durchschnittlich 21 Jahren zu ihrem Sexualverhalten interviewt und genital, anal und oral untersucht. Unter den Befragten hatten 40 % mit mehr als 10 Partnern im Leben Sex. Analverkehr hatten bereits 43 % der Frauen und 65 % der Männer, so die vorläufigen Ergebnisse.
„Sexualpraktiken ändern sich. Hätten wir beispielsweise nur genital untersucht, hätten wir einen Großteil der Infektionen übersehen.“ Wenn es nach Brockmeyer geht, hat das Gesundheitswesen einen zu naiven Blick auf Sexualität. Man hat auch noch im Alter über 25 Jahren häufig wechselnde Partner, Frauen über 30 werden immer öfter schwanger, Homosexualität wird mehr ausgelebt als in der Vergangenheit. „So prüde unsere Gesellschaft nach außen wirkt, man muss die Realität sehen. Menschen gehen fremd, Swingerclubs werden besucht, man wechselt auch nach der ersten Lebenshälfte noch den Partner. Man denke etwa an die sogenannte erste Scheidungswelle – auch sie stellt eine neue Ansteckungsgefahr dar.“
In diesem Zusammenhang bedarf es auch einer realistischen Einschätzung in Hinsicht auf die Verwendung von Kondomen. Vor allem bei Jugendlichen wird das Kondom wieder unbeliebter, heißt es in der S2k-Leitlinie zu Infektionen mit Chlamydia trachomatis: „Von der Existenz anderer sexuell übertragbarer Infektionen als AIDS ist Jugendlichen in der Regel wenig bekannt. Die Angaben zum Kondomgebrauch bei Jugendlichen variieren: Beim 1. Mal benutzt zwar ein hoher Prozentsatz der Jugendlichen Kondome, aber in dem Maße, wie die Mädchen Antikonzeption mit der Pille betreiben, haben die Jungen auf den Kondomgebrauch wieder verzichtet. Obwohl 90 % der Jugendlichen wussten, dass man sich mit Kondomen gut vor STI schützen kann, benutzten nur 50 % beim Sex Kondome. In einer aktuellen Studie der BZgA gaben 31 % der Befragten mit mehreren Sexualpartnern im Jahr an, ‚gelegentlich‘ oder ‚nie‘ Kondome zu benutzen.“
Hier sieht Brockmeyer die Gefahr eines voreiligen Vertrauensvorschusses zwischen Sexualpartnern. Vor allem Bekanntschaften, die über Dating-Apps wie beispielsweise Tinder zustande kommen sieht er in diesem Punkt problematisch: „Bei häufigeren Treffen kann man das Kondom weglassen, man kennt sich ja. Auf diese Weise werden Infektionen zusätzlich begünstigt. Und das gilt nicht nur für die MSM-Community, sondern auch für heterosexuell aktive Menschen, zumindest ist das unser Eindruck.“
Zweitens: Männer werden bei dem Screening-Angebot nicht berücksichtigt. Das Screening von Männern ist im G-BA-Beschluss nicht vorgesehen, wird aber in der Leitlinie für sexuell aktive Männer im Alter von 18-25 Jahren einmal pro Jahr empfohlen. Bei ca. 30 % der mit Chlamydien infizierten Männer kommt es zu Symptomen, ein Teil von ihnen geht dann zum Arzt. Dieser Teil ist vermutlich klein. „Männer gehen immer viel später zum Arzt als Frauen. Das ist sicherlich ein Problem, das mit männlicher Sozialisierung zu tun hat.“ Es liegt aber auch an der medizinischen Versorgungsstruktur, sagt Brockmeyer. Mädchen würden nicht nur generell viel arztaffiner erzogen, durch Themen wie Menstruation und Empfängnisverhütung wäre ein Termin beim Gynäkologen schon im jungen Alter vorprogrammiert. „Bis sie etwa 25 Jahre alt sind, kommen Männer im Medizinsystem kaum vor“, stellt Brockmeyer fest.
Das ist seiner Ansicht nach der falsche Weg: „Man muss die Jungen miteinbeziehen, es sei denn, man hat die Vorstellung der Frau als Femme fatale, die Unheil über die Männer bringt.“ Damit meint Brockmeyer in erster Linie die besonders große Bedeutung einer notwendigen Mitversorgung von Männern im Zuge einer Therapie weiblicher Patienten. In der Leitlinie steht, bei Chlamydieninfektionen ist eine Partner- und Partnerinuntersuchung und gegebenenfalls Therapie obligat. Wenn eine Testung nicht möglich ist, sollte eine Therapie auch ohne Labornachweis erfolgen.
Tatsächlich wird die Partneruntersuchung bzw. -benachrichtigung in vielen Fällen nicht wahrgenommen. Dadurch bleibt nicht nur die Chlamydieninfektion bei Sexualpartnern unbehandelt, es kommt darüber hinaus häufig zu einem „Ping-Pong-Effekt“. Schließlich werden 60 % der Reinfektionen beim selben Partner erworben. „Einer der größten Risikofaktoren für Entzündungen im Beckenbereich bei Frauen ist die Wiederansteckung mit Chlamydien“, sagt Jane Hocking, Erstautorin der umfassenden australischen Studie zur Chlamydien-Testung. „Die Partnerbenachrichtigung ist essenziell, wenn man das Problem mit Chlamydien langfristig beherrschen will“, ist Brockmeyer deshalb überzeugt.
Drittens: „Ein Screening-Angebot, das nur 11 % der Zielgruppe nutzen, bringt nichts,“ sagt Brockmeyer. Mögliche Gründe für die Nichtinanspruchnahme des Screenings: Zum einen fehlendes Wissen. Chlamydien sind mitunter deshalb so problematisch, weil ihre Verbreitung durch Unwissenheit vorangetrieben wird: Wenn kein Bewusstsein für die Krankheit vorhanden ist, lässt man sich nicht darauf testen und steckt ohne es zu wissen andere an, dementsprechend wissen auch die Infizierten nicht über die Ansteckung Bescheid. Und weil die Krankheit in vielen Fällen symptomfrei verläuft, kann sie sich unbemerkt ausbreiten, zum Beispiel in Form von Schmierinfektionen in anderen Körperregionen. Ein weiterer Grund ist Scham, wie Brockmeyer bereits in der Vergangenheit betonte. „Die Bereitschaft sich auf sexuell übertragbare Infektionen untersuchen zu lassen, ist immer noch mit einer hohen Hemmschwelle verbunden.“
Doch selbst dann, wenn die Zahl jener, die ein Screening in Anspruch nehmen, steigt: Die Gesamtsituation verbessert sich dadurch nicht unbedingt. „In der Schweiz steigen sowohl die Anzahl von Chlamydien-Tests als auch die diagnostizierten Infektionen Jahr für Jahr an“, sagt Low, Letztautorin der zu Beginn erwähnten australischen Studie. „Um eine evidenzbasierte Strategie gegen die Krankheit zu entwickeln, braucht es ein besseres Verständnis darüber, wie sich das Test-Volumen zur Ausbreitung verhält.“
In Australien ist die Herangehensweise anders als hierzulande: Alle Jugendlichen, die ihren Hausarzt aufsuchen, werden auf Chlamydien getestet – unabhängig davon, ob sie Symptome haben oder nicht. In der großangelegten Studie kam man zu einem ernüchternden Ergebnis: „Obwohl die Tests unter den australischen 16- bis 29-jährigen um 150 % gesteigert werden konnten, führten sie nicht zu weniger Ansteckungen,“ heißt es in der Pressemitteilung. Ausgehend von dieser Erkenntnis empfehlen die Autoren, die bisherigen Richtlinien zu einem breiten Screening aufzugeben und sich auf eine bessere Behandlung der diagnostizierten Fälle zu konzentrieren.
Nicht screenen ist auch keine Lösung, findet Brockmeyer. Seiner Ansicht nach ist nicht das Chlamydienscreening an sich das Problem. Vielmehr müsste man etwas an der Tatsache ändern, dass ein Großteil der Menschen nicht gut genug über sexuell übertragbare Krankheiten und dementsprechend auch nicht über Screening-Angebote Bescheid weiß.
Um das zu ändern, schlägt die Leitlinie als zentrale Maßnahme vor, die Schule miteinzubeziehen. Mit Broschüren würde man Jugendliche kaum erreichen, vielmehr sollten Lehrer und externe Fachkompetenzen an Schulen über STIs informieren. „Darüber hinaus sollte im Rahmen der kontrazeptiven Beratung insbesondere zur hormonellen Kontrazeption immer die Notwendigkeit der zusätzlichen Kondombenutzung thematisiert werden, um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass Jugendliche sich mit der Pille in falscher Sicherheit wiegen“, wird in dem Schreiben betont.
Auch Brockmeyer sieht hier die Schule in der Pflicht. Vor allem Jungen erreicht man auf diesem Weg besser: „Sexualität und STIs müssen ins Schulprogramm. Die Untersuchungen U11 und J1 müssen Pflicht sein, dafür muss man Geld in die Hand nehmen. Gut Unterrichtete haben weniger sexuelle Probleme und STI. Wer da auch große Aufgaben hätte, sind Vereine. Aber gehen Sie mal zu Fußballvereinen und erzählen Sie dort etwas von STI. Eine größere Tabuarena gibt es nirgendwo.“
Nicht nur die Schule ist dazu in der Lage zu informieren, auch Social Media ist eine Option, die nach Brockmeyers Ansicht kaum wahrgenommen wird. Ärzte und das Gesundheitswesen im Allgemeinen gehen hier noch nicht mit der Zeit. „Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, werden noch nicht ausreichend genutzt. Dabei geht das Verbreiten von Information mit weit weniger Aufwand als früher.“ Als Beispiel nennt er ein modernes Aufklärungsvideo von y kollektiv, einem Projekt des ZDF-Jugendsenders funk, an dem er mitgearbeitet hat. Der Clip erreichte fast 160.000 Klicks.
Eine großflächige Medienpräsenz sorgt nicht nur für Aufklärung, sondern auch für einen offeneren Umgang mit dem Thema. „Bei HIV wurde damals viel getan, um Betroffenen aus der Stigmatisierung zu helfen. Um Menschen dazu zu bewegen, mit ihrem Arzt über STIs zu sprechen, muss eine Enttabuisierung stattfingen“, ist Brockmeyer sicher. Das gilt auch für die Partnerbenachrichtigung. Vielen Menschen, die von ihrer Infektion mit einer STI erfahren, fällt es schwer, mit Sexualpartnern darüber zu sprechen. Für diesen Zweck hat das WIR ein anonymes Benachrichtigungssystem eingerichtet, das Betroffene nutzen können, um Partner dazu zu bewegen, sich testen zu lassen.
Wenn die Schule für die Präventionsarbeit zuständig ist, wer kümmert sich dann um Betroffene? In der australischen Studie kommt man zum Fazit, dass Hausärzte den größten Beitrag leisten sollten. „Im Idealfall wird die Krankheit schon beim Hausarzt gestoppt, statt als schwerwiegender Fall im Krankenhaus“, sagt Erstautorin Jane Hocking, Epidemiologin an der University of Melbourne. Ihr Ziel: Mehr Kontrolle. „Tests sollen zwar weiter erfolgen, aber nach der einmal gestellten Diagnose brauch[t] es ein besseres Management der einzelnen Fälle“, so die Empfehlung der Forschergruppe.
Diesem Lösungsvorschlag kann Brockmeyer wenig abgewinnen. Unter den vorherrschenden Bedingungen könne dieser Aufgabenbereich in Deutschland weder von Hausärzten noch von Ärzten anderer Fachbereiche in ausreichendem Umfang abgefangen werden. „Fakt ist: Der Arzt wird fürs Informieren nicht vergütet“, fasst er das Problem zusammen. Dabei unterstellt er Ärzten nicht unbedingt mangelnde Motivation sondern fordert eine realistische Sicht auf den Arbeitsalltag von Medizinern. „Damit bei einem Patientengespräch über Sexualität etwas sinnvolles herauskommt, braucht man schon 20 Minuten oder auch mal länger. Erst wenn man Zeit hat, ein wenig nachzuhaken, merkt man, dass es noch offene Fragen gibt. Ein solches Gespräch kann aus finanziellen und zeitlichen Gründen meistens nicht stattfinden. Sprechende Medizin ist Insolvenzmedizin“, schildert er die Situation. Zudem müssten auch Ärzte durch ein entsprechend ankündigungsfähiges Curriculum wie in der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) weitergebildet werden.
Beim Thema Sexualität bedürfe es einer anderen Gesprächskultur seitens der Ärzte mit ihren Patienten. „Die Erwartungshaltung eines Arztes ist: Der Patient kommt zu mir und erzählt mir über seine Beschwerden. Und dann muss ich rausfinden, was zu tun ist.“ Wenn es um sexuelle Probleme geht, ist ein solcher Ansatz nicht zielführend. „Ein Patient wird nicht sagen: Herr Doktor, ich hatte jetzt mit fünf Leuten Sex und habe vergessen, Kondome zu verwenden. Solche Dinge findet man in der Regel erst dann heraus, wenn man als Arzt die richtigen Fragen stellt“, erklärt Brockmeyer.
Dafür wäre eine spezielle Ausbildung notwendig, bei der es vordergründig um die sexuelle Gesundheit geht und der pathologische Aspekt in den Hintergrund rückt. Dort soll eine umfassende Beratung zu sexuell übertragbaren Krankheiten stattfinden. In diesen Zentren sollte es aber auch generell die Möglichkeit geben, über die eigene Sexualität und eventuelle Probleme und Ängste zu sprechen. „Männer meinen, einen zu kleinen Penis zu haben, Frauen glauben, sie hätten zu große Schamlippen. Die eigene Wahrnehmung des Körpers ist oft verschoben, darunter leidet die sexuelle Gesundheit.“ Um dem Bereich Sexualität im Gesundheitswesen den Raum zu geben, der nötig wäre, bedarf es laut Brockmeyer der Errichtung eigener Anlaufstellen wie das WIR in Bochum. Auch hier bleibt der Mediziner realistisch: „Reich wird man mit so einem Zentrum nicht. Ohne finanzielle Unterstützung lassen sich solche Projekte nicht in die Tat umsetzen, geschweige denn erhalten. Dringend notwendig wären sie allemal.“
Bildquelle: Voir la page pour l’auteur, Wikimedia Commons