Woher bekommen Eltern ihre Informationen und wie entscheiden sie, wem sie vertrauen und wem nicht? Diese Fragen treiben mich häufig um. Es scheint, dass vor allem Eltern von Neugeborenen dem Arzt lieber nicht glauben. Ich denke da an Vitamin K, Vitamin-D, Impfungen.
Wenn es um unsere Kinder geht, herrscht unbestreitbar eine große Unsicherheit, geboren aus Unwissen. Schließlich kann man sich nicht über alles informieren. Man kann auch nicht alle Informationen filtern. Wenn wir Eltern werden, müssen wir mit einem Mal Experten für Dinge werden, die in den Jahren zuvor völlig unwichtig waren. Wir müssen Pädagogen werden, müssen Mediziner werden, müssen Ernährungswissenschaftler und Pflegekräfte werden. Das überfordert uns. Eigentlich wollen wir Eltern doch nur gesunde Kinder und diese gesund erhalten.
Wir Eltern möchte das Beste für unsere Kinder
Also fangen wir an zu lesen. Im Internet, in Ratgebern, in offiziellen Broschüren der BzgA oder Infoblättern vom Kinderarzt. Wir bekommen Bücher von anderen Müttern empfohlen, von Hebammen oder über die Amazon-Bestenliste. Alles ungefiltert für uns, aber doch vorgefiltert durch andere – wie so viele Dinge heutzutage. Schnell entstehen Fake News, ständig befinden wir uns in einer Filterblase. Ist die Hebamme esoterisch geprägt, bekommen wir entsprechende Bücher. Unterhalten wir uns mit gleich gesinnten Eltern, bekommen wir gleichgesinnte Homepages empfohlen.
Vielleicht spielt auch etwas Skepsis oder gar Protest eine Rolle dabei, auf welche Informationen wir uns verlassen wollen. Die etablierte Medizin ist im gültigen Zeitgeist korrupt, überwissenschaftlich, will alle mit Medikamenten zudröhnen („vollpumpen“ ist ein beliebter Begriff) und arbeitet undifferenziert, weil schulmedizinisch. Wir möchten alles anders. Anders bedeutet heute „natürlich“, natürlich heißt ohne alles, also auch ohne Medikamente, ohne Vitamin K, Vitamin D, Fluorid, Impfungen, Antibiotika, alles Errungenschaften der Medizin, die die Säuglingssterblichkeit haben sinken lassen.
Und was möchte ich als Kinderarzt?
Als Kinderarzt kann ich nur auf Aufklärung setzen. Ich kann informieren, ich kann seriöse Quellen nennen und steuere trotzdem die Eltern damit in meine eigene Filterblase, diesmal die wissenschaftliche – aus meiner Sicht natürlich die richtige. So prallen Welten aufeinander. Vereinfacht könnte man von der klischeehaft naturbelassenen Hebammenwelt und der klischeehaften Medikamenten-, Maschinen- und Schulmedizinerwelt sprechen. Eltern entscheiden sich für das Vermeiden, für das Nichtstun, für das Weglassen. Es scheint einen Tendenz im Zeitgeist zu geben.
Eine riskante Entscheidung, geboren aus dem Luxus der industrialisierten Welt: Dank der Einführung mancher Prophylaxen, beispielsweise durch Vitamine oder Impfungen, sind unsere Kinder gesünder als vor Jahrhunderten. Die Säuglingssterblichkeit hat rasend abgenommen, viele der früher gefürchteten Krankheiten sind nicht mehr präsent. Viele Eltern entscheiden aus dem Bauch heraus, meist vom Hörensagen geleitet oder weil N = 1 die leitende Statistik war. Beim ersten Kind hat’s doch geklappt, dann kann man es beim zweiten Mal auch so machen. Bei der Nachbarin hat’s funktioniert, also machen wir es auch so. Trifft die alternativ-esoterische Haltung nun noch auf die statistisch-wissenschaftliche (die ja immer fälschbar sei), geht gar nichts mehr.
Paternalismus?
Wir Mediziner neigen zum paternalistischen Verhalten, dem Folgen von Leitlinien, dem Zurschaustellen des Experten – zumindest hoffen wir, als Mediziner so wahrgenommen zu werden. Wir reagieren ungehalten oder unverständig, wenn Eltern sich anders entscheiden. Wenn wir uns die Filterblase, in der sich die Eltern befinden, vor Augen führen, können wir ihre Denkweise eventuell durchbrechen. Dies braucht Zeit, noch mehr Informationen, aber auch Vertrauen auf seiten der Eltern, sie müssen an unsere Empfehlungen glauben.
Ich gebe zu, dass ich in meiner Praxis oft rigoros reagiere: Impfgegner dürfen nach wiederholten Beratungsgesprächen und fortgesetzter Resistenz die Praxis verlassen, wer das Vitamin K bei U3 abgelehnt hat, wird gleich rausgeworfen, ich halte das für unverantwortlich. Da bin ich paternalistisch par excellence. Vielleicht eine Schwäche meinerseits, aber ich kann eben auch nicht aus meiner Filterblase und muss abends noch in den Spiegel schauen können. Ich sehe mich als Anwalt des Kindes. Auch wenn die Eltern die letzte Verantwortung haben, die ich ihnen nicht abnehmen kann, steht die Empfehlung zum Schutz des Kindes an oberster Stelle (und der Schutz anderer Kinder, wenn wir von Impfungen sprechen).
Wir wollen den Kindern nicht schaden
Vermutlich gibt es keine befriedigende Lösung für beide Positionen. Ich kann mich als Mediziner, gerade als Kinderarzt, nicht altruistisch der Position ablehnender Eltern beugen, denn beide, Eltern und ich, sehen in unseren Entscheidungen das beste Wohl für das Kind. Eine Gemeinsamkeit gibt es aber nur in gemeinsamer Überzeugung, die aber immer einer Durchsetzung meiner Meinung gleichkäme.
Patienten und Ärzte sollen heutzutage Partner sein, gemeinsam Entscheidungen für die Gesundheit treffen. Leider sind die Player auf dem Gebiet der Gesundheit inzwischen so vielfältig – oder sollen wir sie lieber Influencer nennen –, dass es schon lange keine duale Begegnung mehr zwischen Arzt und Eltern ist. Damit kann der informativoffene Austausch zwischen Patient und Arzt kaum noch gelingen. Ich persönlich kann nur tagtäglich darauf bauen, dass Eltern darauf vertrauen, dass wir Kinderärzte alles zum Wohlergehen und der Gesundheit der Kinder tun. Es gibt keine niederen Beweggründe für unsere Empfehlungen.
„Würden Sie das Gleiche empfehlen, wenn es Ihr Kind wäre?“ – Aber sicher.
Ursprünglich hier