„Wir schneiden.“ Wenn der Chirurg diesen Satz sagt, habe ich als Anästhesist gefälligst zu betäuben. Ist der Anästhesist also nur der Dienstleister des Chirurgen? Oder habe auch ich Handlungsmöglichkeiten, wenn ich Bedenken bezüglich einer OP habe?
Jeder Patient geht unterschiedlich an seine eigene OP heran. Es gibt die Patienten, für die aus unserer Sicht richtig große OPs eine Lappalie sind. Nach dem Motto: Kleiner Schnitt und der Tumor ist raus. Sie wundern sich nach der chirurgischen Aufklärung sehr, wenn wir ihnen dann neben der Vollnarkose noch allerlei drumherum verkaufen müssen (arterielle Blutdruckmessung, Doppellumentubus, zentraler Venenkatheter, Intensivstation etc.).
Und es gibt die Patienten, mit den vermeintlich eher überflüssigen Operationen, die eigentlich gar nicht nötig sind und bei denen wir gar keine Narkose machen wollen.
Und dann gibt es noch die Patienten, bei denen wir keine Narkose machen wollen, weil wir wissen, dass das kein gutes Ende nimmt.
Manchmal komme ich mir dann vor wie auf dem Basar. Vor dem Eingriff wird mit den Chirurgen verhandelt, beraten und geschachert wie beim Teppicheinkauf in Alanya. Wie reagiert man als Anästhesist, wenn man gegenüber dem Nutzen einer OP Bedenken hat?
Hier mal exemplarisch drei aktuelle Fälle aus unserer Prämedikationsambulanz.
Junge Frau, die eine Bandscheiben-OP will
22-jährige Patientin, normalgewichtig, keine relevanten Vorerkrankungen. Seit etwa einem halben Jahr hat sie „Probleme mit der Bandscheibe“. Arbeitet als Lageristin bei einem großen Versanddienstleister, wo sie viel und schwer heben müsse. Allenfalls diskrete Ausstrahlungssymptomatik, keine (!) Zeichen eines Querschnittssyndroms. Stellt sich bei uns vor, weil für den Folgetag eine OP zur Entlastung der Bandscheibe geplant ist.
Ich biete ihr an, sich hinzustellen oder hinzulegen, echte Rückenschmerzpatienten sitzen ungerne.
Sie lehnt ab, das ginge schon, so schlimm sei es nicht. Ich frage, wo sie sich schmerzmäßig auf dem Schmerzscore von 0 bis 10 (0 = friedliche Blumenwiese, 10 = infernalischer Höllenschmerz) befindet. Es sei eine 4 bis 5, aber auf Dauer sei das ja auch nicht schön.
Ich frage, was mit einer Ausweitung der Schmerztherapie ist?
Nein, sie sei nicht so für harte Schmerzmittel.
Und Krankengymnastik? Aufbau der Rückenhilfsmuskulatur?
Ja, man habe ihr da so Übungen gezeigt. Die hätte sie machen sollen, aber es war bei ihr wie bei fast allen – keine Zeit, keine Lust, dafür aber 100 Ausreden.
Ich frage sie, was sie sich von der Operation (!) am Rücken erwarte.
Sie reagiert verdutzt, als ich ihr sage, dass eine solche Operation fast immer nur zu einer Linderung der Beschwerden und so gut wie nie zu einer Heilung führt. Dort, wo das Messer Gewebe wegschneidet, entsteht Narbengewebe, dies kann sich verziehen und zu größeren Schmerzen als vorher führen. Sie schaut verwundert, das habe ihr nämlich noch keiner erzählt.
Sie wäre nicht die erste Patientin, die nach ein paar Jahren und etlichen Operationen in der Schmerztherapie landet und bereut, der allerersten von etlichen Operation zugestimmt zu haben.
Fragwürdige OP an Krebspatienten
Ein Patient, 82 Jahre alt, großer und weit fortgeschrittener Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Patient geht nach der „Aufklärung“ durch den Chirurgen für die OP nach Whipple davon aus, dass man den Kräbbs rausschneiden könne und er danach geheilt sei. Ich verweise darauf, dass diese Operation bei Patienten mit seinem Vorerkrankungsprofil an meiner alten Klinik nicht durchgeführt worden wäre, da die Wahrscheinlichkeit an der OP und ihren Folgen zu sterben höher ist als der mögliche Gewinn durch eine etwaige Lebensverlängerung von ein paar Monaten.
Tennisspieler und Raucher mit COPD
Noch ein Patient, 135 kg, Tennisspieler und Raucher mit einer fortgeschrittenen Lungengerüsterkrankung (COPD) und Schlaf-Apnoe-Syndrom, der sich wegen eines Schulter-Arm-Syndroms zur geplanten subakromialen Dekompression vorstellt. Der Sinn und Nutzen dieser OP an sich ist höchst umstritten, das Risiko für Komplikationen im Rahmen der Vollnarkose für den Patienten ist erheblich. Wir besprechen die Möglichkeiten mit dem Patienten (Regionalanästhesie mit Risiko der Phrenicusparese, zeitweise Beatmungspflichtigkeit, intensivstationäre Aufnahme etc.). Der Chirurg wird unter Hinweis auf das erhebliche Narkoserisiko bei fraglichem Nutzen darum gebeten die Dringlichkeit und Notwendigkeit des Eingriffs zu begründen. Da dies ausbleibt, entfällt die OP, der Patient wird nicht operiert.
Bedenken: Was der Anästhesist tun kann
Was habe ich als Anästhesist eigentlich für Möglichkeiten, wenn ich Bedenken bezüglich einer OP habe?
Das Tätigkeitsfeld des Anästhesisten in der Prämedikation ist politisch und medikolegal hochkomplex und voller Tretminen. Trotzdem gibt es da Möglichkeiten.
Die OP, die sich aus meiner Sicht vielleicht als unnötig darstellt, ist für den Patienten aus anderen Gründen vielleicht sehr wohl notwendig. Es gibt viele Gründe für eine OP, die über eine akute Lebensbedrohung hinaus gehen. Erhalt der Lebensqualität, Erhalt der Selbstständigkeit, der Möglichkeit zum Erhalt der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit.
Nicht immer können Patienten uns das so differenziert mitteilen. Praxistipp: Ich nehme mir zwei Unterlagen vom Patienten mit, verweise darauf, dass ich diese kurz kopieren möchte. Dann gehe ich raus, rufe den Chirurgen an, der diesen Patienten operieren möchte und hake mal kurz nach. Einem kurzen Gespräch folgt meist Klarheit.
Warum tue ich so, als wenn ich etwas kopieren würde und sage es dem Patienten nicht direkt? Weil ich glaube, dass ein Patient ein Recht auf das Gefühl größtmöglicher Sicherheit hat. Es verunsichert den Patienten unnötig, wenn wir uns aufgrund innerklinischer Kommunikationsprobleme telefonisch abstimmen müssen.
Der erfahrene Oberarzt oder vielleicht sogar der Chefarzt persönlich stellt die Indikation zur OP. In der Prämedikationsambulanz sitzt der jüngste Assistenzarzt, frisch approbiert, vor einem Jahr noch an der Uni. Auch über Abteilungen hinweg kann ein solch erheblicher Unterschied in der Hierarchie erhebliche Auswirkungen auf Entscheidungsprozesse haben. In diesem Fall würde ich bei begründeten Zweifeln ebenfalls „mal eben zum kopieren“ rausgehen und mit dem eigenen Oberarzt Rücksprache halten.
Ein OP verdient nur Geld, wenn er operiert. Je nach OP sind das zwischen 11 und 25 € pro Minute. Und wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Wir operieren seit Jahren wahrscheinlich zu viel und zu oft, vielleicht ist aber auch der Bedarf gestiegen. Meiner persönlichen Einschätzung nach gibt es schon hin und wieder Operationen bei denen man mal nachdenklich wird. Das sind aber gefühlt keine 5-10 Prozent der Gesamt-OPs.
Ob der Blinddarm wirklich nachts um 3 raus muss oder ob er nur zu dieser finsteren Zeit heraus muss, damit am Tag keine geplante Operation verschoben oder gar gestrichen werden muss – das sei mal dahingestellt. Grundsätzlich glaube ich, dass der Anteil der vermeidbaren Operationen wesentlich geringer ist als es in der Öffentlichkeit gerne dargestellt wird. Das ist zumindest mein persönlicher Eindruck - in unserer Klinik.
Klar ist aber auch – eine einzige, überflüssige Operation ist bereits eine zu viel!
Wie ist das an eurer Klinik? Gibt es die Möglichkeit, Bedenken bezüglich einer OP zu äußern? Hat das Konsequenzen oder wird das ignoriert?