Ich war gestern bei einem Unfall auf der Autobahn. Freie Sicht, 10 °C Außentemperatur und eine trockene Fahrbahn. Keine Baustelle, keine Hindernisse, eine freie gerade (!) Strecke, soweit man schauen kann. Du hängst in deinem zerknautschten roten Kleinwagen, der auf dem Dach liegt.
Du bist ohne Bremsspur in den Graben gerast, hast dich mehrfach überschlagen, die Autobahn ist übersät mit einem Gemisch aus Autoteilen, Trümmern der zerrissenen Leitplanke und jeder Menge hochgeschleuderter Erde.
Man fragt sich unweigerlich: Wie kann so was passieren? Mit dem Handy gespielt? Vielleicht. Es bleibt Spekulation.
Aus meiner subjektiven Perspektive stellt es sich so dar, als hätten derartige Unfälle seit der flächendeckenden Benutzung von Smartphones stark zugenommen. Es gibt LKW-Fahrer, die ungebremst in ein Stauende rasen. Hat es früher auch schon mal gegeben, aber gefühlt kommt das heutzutage sehr viel häufiger vor. Ich habe dafür keine Statistik, die ich vorlegen könnte, es entspricht nur meiner Wahrnehmung.
Tausende von Kanälen, die uns ablenken
Das obige Video ist sicher allen bekannt, oder? Es ist schwer zu ertragen. Die Geräusche und das Schreien der Verletzten tun weh und aus Erfahrung kann ich sagen, es ist genau so. Jeder Unfall brennt sich ein bisschen in die Seele ein. Für jede Feuerwehrfrau, für jeden Notarzt, für die Polizisten und die umstehenden unverletzten Unfallbeteiligten.
Das Video kommt aus einer Zeit, als man noch SMS schrieb und diese SMS auch noch Geld kosteten. Heute gibt es Facebook, Instagram, Twitter, iMessage, Whatsapp und noch 1.000 weiter Smartphone-Dienste und das mit einer Flatrate, außerdem muss man auch auf allen Kanälen up to date bleiben, weil sonst würde man ja verpassen, dass Michaela auf Bali gerade einen super leckeren Cocktail schlürft – inklusive Foto von dem Cocktail, nicht von Michaela. Dafür mit fancy Hashtags.
Kein Urlaub ohne Instagram
Michaela: Super lecker #bali #cocktail #timeforus #liveyourdream
Und natürlich kann sie sich auf ihren Freundeskreis verlassen, aus dem alle jetzt und sofort auf „Gefällt mir“ klicken. Michaela sitzt also auf Bali, schaut auf ihr Handy und wartet auf Rückmeldung.
DING!
Karsten: *Gefällt mir*
Carina: *Gefällt mir*
Jenny: „Sieht lecker aus!“
Antwort von Michaela: „Ja, köstlich!“
Steffi: *Gefällt mir*
DING! …
So weit, so belanglos. Sie könnte sich eigentlich auch mit ihrem Gegenüber unterhalten, aber der schickt „den Jungs“ gerade ein Foto von dem Flatrate-Sauf-Armband, umgehendes Feedback garantiert.
Andi: Gas geben! #ballern #fürlau #flatrate #urlaub #träumenichtdeinlebenlebedeinentraum
…
„Wolle, Marc und 21 anderen Personen gefällt das.“
DING! DING! DING! DING …
Was interessieren uns die Michaelas und Andis dieser Welt?
Man könnte jetzt meinen, das sei alles belanglos. Sollen Andi und Michaela doch ihre Nachrichten und Feedbacks in die Welt schicken, was geht mich das an?
Die Michaelas und Andis dieser Welt tun das nicht nur im Urlaub auf Bali. Sie chatten, texten und liken überall, auch im Auto, auch als Fahrer. Sie programmieren ihr Navi, machen ein Foto vom Kilometerstand (100.000 !!!) und checken das Make-Up per Selfie. Vielleicht suchen sie auch nur einen Burgerbrater entlang der Route und tippen dafür ein bisschen auf dem Glasdisplay rum.
Guckt nach vorne,
tippt,
guckt,
aargh – vertippt, korrig…
UPS! Etwas nach links verzogen, aber hey, ist nichts passiert, linke Spur war ja zum Glück frei also, weiter gehts.
Nach vorne gucken,
tippen,
gucken …
Was tun gegen die ständige Ablenkung?
Wer so wie ich viel im Auto und auf Autobahnen unterwegs ist, sieht es jeden Tag. Autos, die bei Tempo 100 plötzlich vom Gas gehen und an Geschwindigkeit verlieren, dann wieder Gas geben und das ganze von vorne. Nur mal eben am Navi geguckt, ob es eine schnellere Route gibt. Oder Autos, die ganz langsam zu einer Seite abdriften und dann ruckartig wieder in die Spur zurückfinden.
Müde? Vielleicht. Abgelenkt? Schon eher. Es ist Spekulation, weil ein eindeutiger Nachweis ausbleibt, aber wenn in Europa die Anzahl der Verkehrstoten und der Verletzten im Mittel zunimmt, dann muss man schon nach den Ursachen fragen.
Die Franzosen haben das getan und die Geschwindigkeit auf Landstraßen gesenkt. Weil alkoholisierte Autofahrer und der Gebrauch von Smartphones als Problem erkannt wurden, senkt man die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Das finde ich in etwa so, wie wenn mein Kind ein Problem mit Alkohol hat und zu viel am Handy rumhängt und ich deshalb die tägliche Spielzeit an der Konsole von 3 auf 2,5 Stunden reduziere. Oder so.
Keine Kontrollen bringen auch nichts
In Deutschland kostet die Handynutzung am Steuer nur 100 Euro und die werden den wenigsten Autofahrern wirklich weh tun, den Punkt in Flensburg kann man auch verschmerzen. Die schönsten Strafen bringen aber sowieso nichts, wenn keine Kontrollen stattfinden. Kontrollen gegen eine unerlaubte Handynutzung am Steuer sind sehr selten, das Risiko erwischt zu werden, geht scheinbar gegen Null.
Deshalb sollte man sich selbst klarmachen: Kein Status-Update, kein Foto auf Instagram, kein Like oder Dislike, kein „Ich-komme-später“und kein „Holst-du-die-Kinder-ab“ ist ein Leben wert. Nicht das eigene und nicht das eines anderen Menschen.
Ich glaube ja, dass es erst wieder zu einem Rückgang der Unfallzahlen kommt, wenn selbstfahrende Autos zum Alltag gehören. Ob uns das passt oder nicht: Mit Vernunft ist da nichts zu machen. Da können die beeindruckesten Aufklärungskampagnen laufen, der Mensch wird immer wieder zum Handy greifen. Ist ja nur mal eben kurz.
Selbstfahrende Autos als Rettung?
Und wenn das Auto selber fahren kann, dürfen Michaela und Andi endlich liken und tippen bis zur Rhizarthrose. Bis diese Autos erschwinglich und eingebauter Standard sind, müssen sich die Michaelas und Andis dieser Welt zwischen dem Blick auf die Straße und dem Blick aufs Handy entscheiden.
Gruppe „Kindergarten Mitte“, 72 Teilnehmer
Michaela: „Andi hatte einen schweren Unfall, er liegt auf der Intensiv. Wir kommen heute nicht zum Elternabend.“
Karin: „Oh je, gute Besserung!“
Katja: „Alles Gute!“
Stefan: „Gute Besserung!“
Sven: „Ich hatte auch mal einen Unfall. Get well soon!“
Frank: „Gute Besserung!“