BEST OF BLOGS | Karsten ist ein Macher. Das sieht man an seiner Statur, das hört man an seiner Stimme. Ein Typ, der die Ansagen macht, den man nach vorne schickt. Aber irgendwann Anfang Mai wurde es dann unangenehm.
Karsten hat immer Gas gegeben, sein Leben lang. Mittlere Reife mit gutem Abschluss, Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, in der Abendschule das Fachabi nachgeholt. Dann ein berufsbegleitendes Studium, ab in die Selbständigkeit, mittlerweile Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens im Finanzberatungssektor mit 35 Angestellten. Karsten hat sich alles selbst aufgebaut, ohne Fleiß kein Preis. Natürlich war das auch stressig. Es gab sogar mal eine Phase, in der er geraucht hat, aber das ist mittlerweile verjährt. Für Sport war nie Zeit – wie soll man das in einer 60-Stunden-Arbeitswoche auch unterbringen?
Im Moment hat er auch noch mit zwei Prozessen vor dem Arbeitsgericht zu tun. Klare Sache eigentlich, aber irgendwie doch zusätzliche Arbeit und auch eine psychische Belastung. Das machte ihm seit einiger Zeit Druck in der Brust. Die Schmerzen waren auch im Rücken, das kam aber bestimmt vom stundenlangen Sitzen am Schreibtisch.
Irgendwann Anfang Mai wurde es dann wirklich unangenehm. Schon morgens ging es mit Rückenschmerzen los, er war nur noch stundenweise beschwerdefrei. Seine Sekretärin musste ihm online erstmal einen Hausarzt raussuchen, Krankmeldungen hatte er als selbständiger Unternehmer bisher nie benötigt. So bekam er am Folgetag auch direkt einen Termin und stellte sich bei eben jenem Hausarzt vor.
Herr Jacobs praktizierte als überdurchschnittlich beliebter Arzt seit über 35 Jahren in einer von drei allgemeinmedizinischen Praxen im Ort. Eigentlich hätte er vor fünf Jahren in Rente gehen sollen. Letztlich beugte er sich immer wieder dem Wunsch seiner Patienten und verlängerte von Jahr zu Jahr.
Herr Jacobs lernte Karsten am nächsten Tag als sogenannten Akutpatienten kennen. Die MFA notierte was von Rückenschmerzen. Karsten füllte den Anamnesebogen gewissenhaft aus, 190 cm bei 105 kg Körpergewicht, Ex-Raucher mit 30 Pack Years, als Kind Mandel-OP, Pollenallergie. Aktuelle Beschwerden: Druck auf der Brust, Rückenschmerzen.
Nach einer kurzen Untersuchung und einem erläuternden Gespräch stellte Herr Jacobs eine Überweisung zum Radiologen aus. Die Schmerzen kommen sicher vom Rücken, bestimmt ein Bandscheibenvorfall. Ja ja, die viele Arbeit am Schreibtisch, ein CT würde Klarheit bringen. Ein Rezept für Voltaren gab es noch dazu, gute Besserung, bis bald.
Obwohl nur ein CT gemacht werden sollte und kein MRT, musste Karsten noch sechs Wochen auf den Termin für das CT warten. Nach drei Wochen ging Karsten an einem Montag erneut zu seinem neuen Hausarzt. Herr Jacobs rief in der radiologischen Praxis an und bat um einen früheren Termin. Ja, man könne Karsten Ende der Woche dazwischennehmen, Freitag sei in Ordnung, er soll solange bei Bedarf zusätzlich Novalgin nehmen.
Am Donnerstagabend hielt Karsten es nicht mehr aus. Er schwitzte vor Schmerzen und wurde unruhig. Zur großen Verwunderung seiner Frau fuhr Karsten ins örtliche 300-Betten-Krankenhaus und stellte sich in der Ambulanz vor. Hier wurde er glücklicherweise nicht der Chirurgie (wegen Rücken), sondern der Inneren Medizin (wegen Brust) zugeführt.
Eine Ärztin nahm den Patienten auf, es wurde ein EKG gemacht (selbst der Haustechniker, der die Steckdosen in der Ambulanz wechselt, bekommt übrigens ein EKG gemacht), Herzenzyme abgenommen. Karsten kam auf die Normalstation.
Er hatte keine gute Nacht. Immerhin fühlte er sich jetzt im Krankenhaus sicherer als zu Hause. Die Schmerzen blieben, die Unruhe nahm zu, der Schweiß lief ihm kalt über die Haut. Am Morgen dann berichtete die Ärztin in der Frühbesprechung von den Neuaufnahmen der Nacht, erzählte kurz auch von Karsten. Der leitende Oberarzt erschrak ob der Schilderung des Krankheitszustands und sah sich umgehend den Patienten (Sichtungskategorie rot!), das EKG (Hebungsinfarkt) und die Laborparameter an (vierstelliges Troponin).
Es gibt diesen einen Punkt im Verlauf wirklich dramatischer Krankheitsgeschichten, ab dem auf einmal alles sehr zügig geht. Meistens ist das der Punkt, an dem all die Ärzte, die in den Tagen und Wochen zuvor nicht konsultiert wurden, gemeinsam und parallel am und mit dem Patienten arbeiten. OP-Hemd an, hier bitte noch unterschreiben, Fahrt ins Katheterlabor, Desinfektion des Armes, Betäubung des Armes und Darstellung der Herzkranzarterien. Es zeigt sich ein massiv und an mehreren Stellen verkalktes, fast komplett verschlossenes Hauptgefäß.
Es erfolgte die Kontaktaufnahme mit meiner Klinik. Der Transport wurde initiiert, wir bekamen die ersten Infos zur geplanten Notoperation. Es gab einen Intensivtransport und 40 Minuten später lag Karsten auf einer Trage vor der Seitentür des OPs und wurde eingeschleust. Keine Notaufnahme, direkt in den OP.
Karsten war ganz grau im Gesicht. Man bekommt irgendwann ein Gefühl für diejenigen, die so richtig krank sind.
Wir wussten von der Vorgeschichte der letzten Wochen. Von der Aufnahme am Vorabend, von all den kleinen und großen Fehlentscheidungen. Es frustriert, wenn man immer und immer wieder miterlebt, mit welcher Nonchalance einige Ärzte mit dem Leben anderer Menschen umgehen.
Hätte der Hausarzt seinen Bruder auch so behandelt? Hätte die aufnehmende Kollegin im Kreiskrankenhaus ihren Vater auch so behandelt? Ein schockiger Patient, ein offensichtlicher Herzinfarkt. Keine Rücksprache mit dem Oberarzt, keine kausale Therapie, keine intensivstationäre Aufnahme.
Wo fängt man bei so viel Unfähigkeit an? Bringt es etwas, sich darüber aufzuregen? Warum hat ein solches Fehlverhalten eigentlich keine strafrechtlichen Konsequenzen?
Karsten wurde in den OP gefahren, entkleidet, die Leiste desinfiziert, die Herz-Lungen-Maschine im Standby kreisend. Er wurde eingeleitet und brach trotz maximal kardioprotektiver Anästhesie und laufender Katecholamine komplett ein. Kein Druck, kein Auswurf. Es erfolgte die umgehende Kanülierung der Leistengefäße und Anlage eines Bypasses.
Unter laufender Herz-Lungen-Maschine wurde Karsten mit drei Bypässen versorgt, postoperativ benötigte er noch eine intraaortale Ballonpumpe. Das Weaning gestaltete sich zunächst schwierig, aber nach vier Tagen war er den Beatmungsschlauch los.
Zwei Wochen später war ich auf der kardiochirurgischen Normalstation zum Narkosevorgespräch. Im Nachbarbett lag Karsten. Neben ihm saß seine Lebensgefährtin. Wir kamen ins Gespräch, ich freute mich sehr darüber, ihn wohlauf zu sehen.
Karsten hatte zwischenzeitlich realisiert, wie knapp er dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Im allerletzten Moment. Seine Partnerin hatte bereits ein paar Tage Vorsprung gehabt, den Ernst der Situation zu realisieren und die Zeit genutzt, um das Gespräch mit dem Hausarzt zu suchen. Sie muss dort einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Er hat sich wohl mehrfach bei Karsten entschuldigt und sich auch sehr besorgt nach seiner Genesung erkundigt.
Eine Woche nach Karstens OP verkündete besagter Hausarzt tatsächlich seinen endgültigen Ruhestand. Die Praxis ist mittlerweile geschlossen.
Bildquelle: Lou Batier, Unsplash