Vom Zugucken lernt man ja gemeinhin wenig. Selber machen ist da schon sinnvoller. Deshalb gibt es heute mal einen Fall, den ich schildere und bei dem es mich interessieren würde, wie ihr gehandelt hättet. In ein paar Tagen berichte ich dann, was tatsächlich passierte.
Vor meinem Studium war ich der Meinung, dass ich mit der Kombination aus umfangreichem theoretischem Wissen und dem sicheren Beherrschen praktischer Fähigkeiten alle medizinischen Probleme lösen können werde. Diese schwarz-weiße Vorstellung entpuppte sich noch während des Studiums als frommer Wunsch. Medizin kann sich auf so unfassbar komplexe Weise präsentieren, dass immer wieder Situationen entstehen, in denen all dein Wissen und all deine Fähigkeiten dir letztendlich doch nur die Wahl zwischen Wartburg und Trabbi lassen. Manchmal wird erst nach dem Tod eines Patienten klar, was man hätte anders besser machen können.
Um euch zu verdeutlichen, wie kompliziert es manchmal ist, würde ich gerne ein What-would-you-do-Tutorial mit euch machen. Notfallmedizin ist weit mehr als defibrillieren und intubieren. Im folgenden Szenario geht es um Ethik, moralisches Handeln, Sozialdienst, Politik, Integration und Inklusion. Alles Dinge, die ich auf der Universtität und in zahlreichen Praktika gelernt habe. Nicht.
Der Fall Aydin
Einsatzstichwort: Akute Dyspnoe, Kind tracheotomiert, 4 Monate, YILMAZ Aydin_Hochstraße 237-239, Einweiser vor Ort
Einsatzort ist ein Wohngebiet mit sehr hohen Hochhäusern. Die Hausnummer 237–239 ist ein cremefarbener Plattenbau, ca. 20–25 Stockwerke hoch. An der Haustür stehen ein paar interessierte Jugendliche, keiner ist über unsere Ankunft informiert oder weiß etwas von einem Notfall.
Wir suchen „Yilmaz“ auf den geschätzt 200 Klingelschildern. Es gibt mehrere mit Yilmaz. Wir sprechen die Jugendlichen an und sagen, dass wir ein Kind von Familie Yilmaz suchen, das über einen Schlauch im Hals atmet. Tatsächlich weiß einer der Jungs Bescheid, er gibt uns den entscheidenden Tipp und schon sind wir im Aufzug.
Der Flur hat nochmal etwa zehn Türen, hier (!) macht sich nun tatsächlich jemand bemerkbar, die Tür ist auf. In der Wohnung treffen wir auf Frau Metler – sie gibt sich als Mitarbeiterin des Jugendamts aus. Anwesend ist auch ein junger Mann von 17 Jahren, Sercan, der Bruder unserer Patientin.
Man sieht sofort: Aydin ist krank
Im Stilmix eines Kinder- und Jugendzimmers wohnt Sercan mit seiner kleinen Schwester Aydin. Aydin ist unsere Patientin, anders als auf der Meldung stellt sich heraus, dass sie nicht vier Monate, sondern schon vier Jahre alt ist. Dafür sieht sie ungewöhnlich klein und zierlich aus, eher wie eine schmächtige Zweijährige. Der erste Eindruck sagt: Hier ist jemand richtig krank.
Die Wangen sind eingefallen, die Atmung über ein Tracheostoma sieht angestrengt aus, die Augenlider sind schwach, auch Sercan wirkt müde. Sie atmet über ein Heimbeatmungsgerät im CPAP-Modus (eine Art Unterstützungsmodus, die Pat. „zieht“ Luft und das Gerät unterstützt sie ein bisschen, so als wenn man bei sehr, sehr starkem Wind an der See steht und den Mund gegen den Wind öffnet und einatmet, aber nur ein bisschen). Ich erkläre Sercan, dass wir ein paar Untersuchungen machen müssen.
Aydin wurde zum Sterben entlassen
Das Pulsoxymeter zeigt einen SpO² von 89 %, HF 129/min, RR 85/40. Recapzeit (mache ich immer, tut nicht weh und geht schnell) ist erwartungsgemäß bei über 2 Sekunden, was höchst alarmierend ist, denn bei Aydin sollte diese sogar unter einer Sekunde sein. Ich versuche einmalig Aydin abzusaugen, in der Hoffnung damit ihr Problem zu beheben, kann aber kein Sekret gewinnen, das chirurgische Tracheostoma ist frei.
Ich frage Sercan, was passiert sei, aber Sercan ist sehr aufgeregt und kann wenig berichten. Dafür erfahre ich mehr von Frau Metler. Frau Metler betreut die Familie Yilmaz seit einigen Jahren und weiß zu berichten, dass bei Aydin eine schwere Stoffwechselerkrankung vorliegt. Die Familie sei zuletzt erst vor drei Wochen aus der Klinik entlassen worden. Die Erkrankung sei nicht heilbar, weitere Therapieversuche hätten keine Aussicht auf Erfolg und die Entlassung sei auf Wunsch der Eltern erfolgt, damit Aydin wenigstens Zuhause im Kreis ihrer Familie sterben dürfe.
Die Eltern sind nicht zu erreichen
Es findet sich ein sehr ausführlicher Entlassungsbrief, in dem die infauste Prognose und die sehr geringe Lebenserwartung klar und deutlich benannt ist. Der Brief deckt sich mit den Angaben, der Mitarbeiterin des Jugendamts und bestätigt, dass die Patientin auf Wunsch der Eltern zum Sterben in häuslicher Umgebung entlassen worden sei.
Aktuell sei die Mutter auf der Arbeit, sie stehe dort an sehr lauten Maschinen. Einen Anruf würde sie gar nicht hören, die Benutzung von Handys auf der Arbeit sei aber ohnehin verboten, wird uns berichtet. Der Vater sei mit einem weiteren Sohn in den Nachbarort zu einem Vorstellungsgespräch gefahren. Sercan sei beauftragt worden, auf seine Schwester aufzupassen und falls irgendetwas sein soll, sollte er den Notarzt rufen.
Sercan bekommt große Angst
Sercan hat mittlerweile gemerkt, dass das Absaugen ohne den ersehnten Heilungserfolg geblieben war. In seinem Gesicht wird Not jetzt durch zunehmende Angst ersetzt, was er uns auch mitteilt. Seine Schwester dürfe nicht jetzt sterben und schon gar nicht, wenn seine Eltern nicht da sein. Außerdem müsse noch ein Imam gerufen werden und er könne ja seinen Vater nicht erreichen. Er macht mir glaubhaft war, dass sein Vater üble Dinge mit ihm anstellen würde, wenn seine geliebte und einzige Tochter sterben würde, ohne dass er den Notarzt gerufen habe. Sercan bittet darum, dass wir irgendwas machen, damit Aydin überlebt.
Für eine telefonische Kontaktaufnahme und ein zeitaufwändiges fernmündliches Gespräch welches gegebenenfalls sogar erst übersetzt werden muss bleibt keine Zeit mehr. Aydin geht es jetzt richtig schlecht, die Sättigung ist jetzt bei 81 %, es muss jetzt eine Entscheidung getroffen werden.
Hier geht es zur Auflösung.