Letzte Woche habe ich mit Frau Schurig über das Ende ihres Lebens gesprochen. Auch mit ihren engsten Angehörigen. Mein Eindruck war, dass es ein gutes Gespräch gewesen ist. Dass ich mich getäuscht habe, zeigt ein wutentbrannter Beschwerdebrief über mich.
Wir führen auf der Intensivstation viele Gespräche über das Ende des Lebens. Die Voraussetzungen sind immer andere, die Wünsche und Wege dahin sind ebenso verschieden. Ich glaube, jeder hat eigene Gedanken dazu und manche schaffen es sogar, diese Gedanken anderen mitzuteilen oder auch in Form einer Patientenverfügung aufzuschreiben.
Viele gehen auch den Weg der Verzweifelten und besuchen einen Notar, bei dem sie für viel Geld eine nutzlose Verfügung unterschreiben, die mit den Worten „Wenn zwei Ärzte unabhängig voneinander feststellen, dass meine Erkrankung unweigerlich zum Tod führt, wünsche ich …“ anfängt und nicht mal das sündhaft teure Papier wert ist, auf dem sie steht, weil bereits die einleitenden Worte unsinnig sind.
Ein direktes Gespräch ist oft nicht mehr möglich
Also sind wir dann häufig auf der Intensivstation mit sehr alten, komplex vorerkrankten Patienten konfrontiert und müssen über das Ende reden. Wir fragen also unsere Patienten, ob sie sich schon mal Gedanken darüber gemacht haben und wenn ja, wieviel Intensivmedizin sie noch möchten und was wir noch für sie tun können und sollen.
In aller Regel führen wir dieses Gespräch auf der Intensivstation nicht mit den Patienten selbst, sondern mit deren Angehörigen, da die Patienten zu diesem Zeitpunkt meist schon beatmet werden und im künstlichen Koma liegen. Sehr selten kommt es vor, dass man wirklich mal von Angesicht zu Angesicht mit den Patienten in Ruhe über den Sinn und Unsinn weiterer intensivmedizinischer Maßnahmen sprechen kann.
Frau Schurigs Zustand war schlecht
Ich halte es zum Beispiel nicht für sinnvoll, einen maximal luftnötigen Patienten unter NIV-Maske mit 100 % bei beginnender Dekompensation zu fragen, ob er denn auch eine Beatmung und einen Luftröhrenschnitt wünsche. Das empfinde ich als eine Äußerung zwischen Erpressung und unmoralischem Angebot. In jedem Fall ist aber seitens des Patienten in so einer Situation keine Geschäftsfähigkeit mehr gegeben.
Frau Schurig kam zu uns, weil sie seit Monaten an Gewicht verlor. Ein bisschen müde fühlte sie sich auch seit einiger Zeit, aber es ging ja alles so noch ganz gut. „Wer soll denn sonst den Haushalt machen, ich renn doch nicht wegen jedem Zipperlein zum Arzt.“
Als Frau Schurig zu uns kam, war sie in einem sehr schlechten Zustand. Fahles, eingefallenes Gesicht, regelrecht ausgemergelt.
„Die hat ja nie was gehabt. Kerngesund war sie immer!“
Eine heilende Operation war unmöglich
Beim Hausarzt war sie mit der Problematik nie. Verdrängung? Ignoranz? Irgendwann ging es dann gar nicht mehr, sie kam zu uns mit dem klinischen Bild eines Darmverschlusses.
„Über Weihnachten muss ich aber nach Hause, mein Sohn und meine beiden Töchter kommen. Die wohnen in Österreich und in der Schweiz. Ist doch wohl nichts ernstes, oder?“
Eine Notfalloperation war notwendig, abgesehen von einem CT war eine Diagnostik vorher nicht möglich, sonst wäre der Stuhl oben herausgekommen. Im OP zeigte sich ein riesiger Darmtumor, der fast den gesamten Bauchraum durchsetzte und bereits die Leber infiltriert hatte. Auch das Bauchfell war über und über mit Metastasen übersät. Es wurde ein künstlicher Darmausgang angelegt, eine heilende Operation war unmöglich.
Krebs und Nierenversagen
Frau Schurig litt bereits bei Aufnahme unter Nierenversagen, sie benötigte in der OP sehr viel kreislaufunterstützende Medikamente, viel Flüssigkeit und ein komplexes Spektrum der Intensivmedizin, sonst hätte sie die OP in dem schlechten Zustand gar nicht überstanden.
„Überall diese Schläuche. Letzte Woche ging es ihr noch gut!“
Für die Familie war der Fall klar. Die eigentlich gesunde alte Dame kommt ins Krankenhaus und da fällt sie in die Hände der Mediziner und ist dem Tod geweiht. Keine einfache Gesprächsgrundlage.
Tatsächlich wurde Frau Schurig rasch wach, wirkte adäquat und sah sehr viel besser aus als noch vor der OP. Etwa am fünften Tag zeichnete sich aber ab, dass die Nieren sich trotz aller Zuwendung und unterstützenden Maßnahmen nicht erholen wollten. In der weiteren Bildgebung zeigten sich bereits fortgeschrittene Lungenmetastasen, ein Hinweis für eine sehr weit fortgeschrittene Erkrankung.
„Und da kann man jetzt nichts mehr machen? Meine Frau war doch bisher immer kerngesund! Ich verstehe das nicht.“
Dialyse in der Palliativmedizin?
Am fünften Tag nach der Operation waren die Nierenwerte so hoch angestiegen, dass wir vor der Frage standen, ob eine Dialyse gestartet werden soll, um womöglich noch ein bisschen Zeit zu gewinnen oder ob man den Gang der Dinge akzeptierte. Das Besondere in diesem Fall war, dass es für die Patientin definitiv keine Rettung im Sinne einer Heilung gab. Noch außergewöhnlicher war es, dass die Patientin wach, adäquat und bei vollem Verstand und ohne Schmerzen, Luftnot oder andere beeinträchtigende Symptome im Bett saß. Von außen gesehen fühlte sie sich pudelwohl, einzig die Nieren arbeiteten überhaupt nicht mehr.
Normalerweise würden wir bei palliativen Patienten mangels Perspektive gar keine Dialyse fahren, hier war aber die Sondersituation, dass man zumindest theoretisch noch davon ausgehen musste, dass die Nieren mit viel Glück wieder die Arbeit aufnehmen und der Patientin somit vielleicht noch ein paar Wochen zum Leben blieben.
Wir erklären der Patientin ihre Optionen
In einem ethischen Fallgespräch am Bett der Patientin, das die Patientin einschloss, legten wir die Gründe für das Gespräch dar, es wurden die Therapieoptionen erläutert und auch konkret angesprochen, dass nur eine Dialyse vielleicht noch ein wenig Zeit bringen könne. Die Patientin legte Wert darauf, festzustellen, dass sie jegliche lebensverlängernde Maßnahmen eigentlich für sich ausgeschlossen habe. Sie habe aber auch den dringenden Wunsch, noch einmal nach Hause zu kommen. Deshalb wurde mit der Patientin vereinbart, einen einmaligen Zyklus Dialyse über etwa eine Woche zu starten, um die Nierenwerte etwas zu bessern und ihr die Möglichkeit zu geben, noch einmal nach Hause zu kommen.
Die Schwiegertochter war sehr ruhig in dem Gespräch und stellte nur eine Frage: „Was passiert, wenn wir keine Dialyse machen?“
Obschon im Gespräch vorher klar kommuniziert, wiederholte ich, dass die Patientin nach allem, was wir über die Krankheit wissen, mit und ohne Dialyse relativ bald sterben würde. Mit Dialyse könne man das Ende vielleicht noch einige Zeit hinausschieben, ohne Dialyse würde sie innerhalb der nächsten Tage müde werden, in einen Dämmerzustand fallen und schließlich sterben.
Unerwartete Reaktion der Schwiegertochter
Die Schwiegertochter verließ zügigen Schrittes das Zimmer und ward nicht mehr gesehen. Diese Reaktion überraschte mich sehr. Ich war bis dahin davon ausgegangen, dass wir in einer ruhigen und offenen Gesprächsatmosphäre eine gute gemeinsame Basis gefunden hätten.
Der Sohn der Patientin entschuldigte sich für das aufbrausende Verhalten seiner Frau, für mich war das im Rahmen der Trauerbewältigung absolut in Ordnung, auch wenn ich mir für die Schwiegertochter gewünscht hätte, die Nachricht besser verarbeiten zu können.
Trotzdem blieb am Ende also die Vereinbarung, eine Dialyse zu versuchen, um auf eine Erholung der Nieren im Verlauf zu setzen und somit noch ein paar Wochen gewinnen zu können. Die Patientin äußerte sich sehr zufrieden über unseren Austausch. „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Das war ein gutes Gespräch.“
Es folgt ein Beschwerdebrief
Dem Ehemann standen zwar die Tränen in den Augen, aber auch von ihm war viel Dankbarkeit zu spüren. Dem Sohn bot ich an, nochmal unter vier Augen mit seiner Frau zu sprechen. Das Gesprächsangebot unterstützte ich durch die Übergabe einer Visitenkarte mit der persönlichen Durchwahl des Arztes der Intensivstation. In besonderen Fällen geben wir diese Nummer direkt an die Angehörigen.
Die Schwiegertochter verzichtete auf ein Gespräch mit mir und ging stattdessen zum Chefarzt und zum Geschäftsführer, um sich über uns zu beschweren. Nicht bei Facebook oder per Mail, sondern in einem wutentbrannten Brief machte sie ihrem Ärger Luft. Um einmal ein Gefühl dafür zu bekommen, wie kompliziert die Kommunikation in Krisensituationen sein kann, wie wenig von dem Gesagtem tatsächlich so beim Empfänger ankommt, wie es gemeint war und mit welcher Art von Problemen wir im Krankenhaus zu tun haben, sei hier der Brief in anonymisierter Form angefügt:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
am Vortag habe ich meine Schwiegermutter bei Ihnen auf der Intensivstation besucht. In dem Gespräch sollte es um die weitere Therapieplanung gehen. Meine Schwiegermutter war bisher immer gesund, nach der Operation wurde uns nun mitgeteilt, dass die Nieren kaputt gegangen seien. Der Arzt hat auch gesagt, dass meine Schwiegermutter sterben würde.
Er hat ihr das in einem Gespräch direkt gesagt. Ich finde das unmöglich! Man darf doch einem Menschen nicht sagen, dass er sterben wird! Meine Schwiegermutter war am Ende ganz aufgelöst, das Gespräch hat sie völlig überfordert. Ich erwarte von Ihnen eine Erklärung und eine Entschuldigung.
Mit freundlichen Grüßen …"
Beschwerde ist Beschwerde
Ich musste zum Rapport bei meinem Chef, beim Chef der Chirurgie, dem Klinikdirektor, und es gab ein Treffen der beiden mit dem Geschäftsführer. In dem anschließend stattfindenden Gespräch mit der Schwiegertochter und meinem Chef konnten die Vorwürfe letztlich schnell aus der Welt geschafft werden. Hierfür war sicher auch hilfreich, dass sowohl die im Gespräch anwesende Bezugspflegekraft als auch der Rest der Familie die Inhalte, die Stimmung und letztlich den Gesprächsverlauf gänzlich divergierend darstellten.
Ich kann auch rückblickend keinen Fehler in der Gesprächsführung erkennen und habe für mich selbst überlegt, ob und wenn ja, was ich anders hätte machen sollen. Das Gespräch unter Ausschluss der Patientin führen? Über die Patientin aber nicht mit der Patientin reden? Keine Option.
Ein Nachgeschmack bleibt natürlich auch beim Chef hängen. Beschwerde ist Beschwerde und wenn sie auch noch so unhaltbar ist.
Und so ging es zu Ende …
Wir hätten die Patientin gerne für die letzten Meter des Lebenswegs in ein Hospiz oder nach Hause verlegt. Letztlich zählt aber der Wille des Patienten und der klammerte sich in diesem Fall an die Hoffnung, die Nieren könnten wieder zu funktionieren beginnen und man könne somit weitere Wochen oder Monate gewinnen.
Frau Schurigs Körper war so geschwächt, dass sie trotz einer langsamen und schonenden Dialyse (slow, extended) und trotz Katecholamingabe zunehmend kreislaufinsuffizient wurde und vier Tage nach dem Gespräch auf der Intensivstation verstarb. Von der Familie wurde im Anschluss eine großzügige Geldspende für die Intensivstation übergeben, außerdem gab es Süßigkeiten und eine Dankeskarte.
Alles nicht so einfach manchmal.