Waltraud war die breite Treppe, die zu ihrer kleinen Wohnung ins Obergeschoss führte, in den letzten 52 Jahren sicher tausende Male rauf- und runtergegangen. Anfangs noch mit den Kindern, um sie zum Schulbus zu bringen, später dann, um die Kinder zum Auto zu bringen und um den Müll rauszubringen und um im Keller Wäsche zu waschen. In letzten Jahren auch, um die Enkel zu verabschieden.
Damals – als die Kinder noch zum Schulbus gingen – baute man Treppen wieder mit großen Steinplatten, die quer verlegt wurden, man konnte mit den Händen nicht gleichzeitig das Treppengeländer und die Wand berühren, so breit waren die Treppen. In der Nachkriegszeit war hier die Übergangsverwaltung der amerikanischen Streitkräfte untergebracht. Gegenüber wurde die erste Feuerwache der Stadt einquartiert.
Als Waltraud und Gerrit die Wohnung im Obergeschoss zugesagt wurde, war die Freude groß, Wohnraum war knapp, da wurde auch eine eigentlich als Büro gedachte Unterkunft gefeiert wie ein Lottogewinn. Zu Waltraud und Gerrit kamen Bernd und Karsten. Und die spärlichen 38 Quadratmeter wurden um weitere 43 Quadratmeter in Form eines Durchbruchs zur Nachbarwohnung erweitert und modernisiert.
Waltraud hatte große Erfurcht vor den Feuerwehrleuten
Die gegenüberliegende Feuerwache wurde ebenfalls ausgebaut, ein großer zentraler Turm, rechts und links mehr als 15 groß nummerierte Ausfahrten. Eine Tauchergruppe, etliche Spezialfahrzeuge, ein Schlauchboot und unzählige Rettungswagen gehörten zur Ausstattung.
Die Enkel waren immer gerne bei Oma Walli, wenn mam Küchenfenster stand, konnte man gut sehen, welche Fahrzeuge gerade zum Einsatz lossausten. Die Feuerwehr fuhr mit Blaulicht und Sirene los, die Enkel standen mit einem Eis in der Hand da. Nebenan begann die Stadtpromenade mit den Biergärten. Am Wochenende war es da immer sehr voll, die Menschen waren gerne draußen und konnten das Leben genießen.
Waltraud hatte große Ehrfurcht vor den Feuerwehrleuten die Tag und Nacht, bei Regen und Schnee ausrückten. Egal, ob Feiertag, WM-Finale oder 37 Grad im Schatten – die Frauen und Männer von der Feuerwehr rückten aus, wann immer gerade Leben gerettet werden mussten. Kaum verging mal eine Stunde ohne einen Einsatz.
Wieder einmal nahm sie die Treppe ...
Als Waltraud nach dem Gottesdienst gegen Sonntagmittag nach Hause kam, kochten die Kartoffeln bereits eine ganze Weile. Es sollte Bierfleisch mit Apfelscheiben geben, dafür brauchte sie Äpfel und Äpfel gab es im Keller. Waltraud ging die Treppe runter, so wie sie die Treppe in den letzten 51 Jahren ihres Lebens unzählige Male heruntergegangen war. Es müssen Millimeter gewesen sein, die sie den Fuß zu weit nach vorne setzte, aber diese Millimeter reichten. Sie verlor für einige Millisekunden den Halt und rutschte weg, knallte mit dem Hüftknochen auf den Steintreppen und blieb liegen. Für einen Moment war es sehr still, dann kam Gerrit zur Hilfe.
Hilfe wäre jetzt das Stichwort gewesen. Ein Anruf bei der 112 und ein signalfarbener Trupp hätte Waltraud die Treppe runtergetragen und ins Krankenhaus gebracht. Es war aber ja Sonntagmittag und irgendwann sollten die Feuerwehrleute sich ja auch mal ausruhen können. Darin waren sich Waltraud und Gerrit einig. Nein, so schlecht ginge es ihr ja nun nicht.
Erstmal ein paar Decken und Kissen
Gerrit holte ihr erstmal eine Decke, die Steintreppe war doch recht kühl. Und die Kartoffeln waren auch bald gar, die gab es jetzt mit Bierfleisch – ohne Apfelscheiben. Abends waren sogar noch ein paar Reste übrig, auch die aßen sie. Zwischendurch hörten sie den Alarm, bestimmt ging es da um Leben und Tod. Klar, in solche Fällen muss man Hilfe rufen, das geht ja nicht anders.
Gerrit polsterte seine Waltraud mit mehreren Kissen so, dass sie etwas besser liegen konnte. Er brachte ihr eine Lampe und ein paar ihrer Bücher, sodass sie etwas lesen konnte.
Und dann wurden wir doch gerufen
Mein Melder löste am Montagmorgen aus mit: „Einsatz, Notarzt, Sondersignal. Nachforderung Schmerztherapie. W. G. Schmellkers, Florianstraße 21, Großtstadt, ENR #42842 8:12“
Beim Einsatzstichwort „Schmerztherapie“ ist für gewöhnlich bereits ein Rettungswagen vor Ort, auch ein Zugang liegt meist schon und ich habe dann die dankbare Aufgabe, den Patienten nur noch schmerzfrei spritzen zu dürfen oder auch eine Kurznarkose zu machen, damit die Patienten überhaupt mobilisiert werden können. Mir bot sich ein reichlich skurriles Bild. Diese ältere Dame, stabilisiert in einem Berg von Kissen und Decken. Augenscheinlich war sie nicht erst vor einer Stunde gestürzt.
Nach dem üblichen Dialog aus Warum-ham-se-denn-nich-eher und Wir-kommen-doch-gerne blieben wir mit Scham und Verwunderung zurück. Wie selbstlos muss ein Mensch denken, dass er sich und seine Schmerzen durch eine extrem unangenehme Oberschenkelhalsfraktur als so unwichtig erachtet, dass er keine Hilfe ruft? Zumal die Hilfe doch direkt gegenüber war, quasi in Rufweite!
Uns allen fielen auf Anhieb zwanzig sinnfreie Einsätze ein, bei denen Anrufer aus Unwissen, Absicht oder Langeweile für unnütze Arbeit und Ressourcenverschwendung gesorgt hatten. Zwanzig Einsätze, allein in der letzten Woche.
Siehe Artikel dazu hier: http://www.spiegel.de/panorama/110-und-112-missbrauch-von-notrufen-nimmt-zu-a-1164711.html