Herr Büllendal hat 72 Jahre seines Lebens erfüllt und glücklich hinter sich gebracht. Es genügte ihm. Den Begriff Makuladegeneration konnte er nicht aussprechen, aber welche Bedeutung das Wort für ihn hatte, merkte er dafür von Jahr zu Jahr umso mehr. Nichts zu sehen heißt Abschied von den Dingen zu nehmen, nichts zu hören heißt Abschied von den Menschen zu nehmen.
Herr Büllendal hatte seine Frau um viele Jahre überlebt, zu den Kindern gab es schon lange keinen Kontakt mehr. Das 13-stöckige Hochhaus bot die Anonymität einer Großstadt. Die ihm noch verbliebenen vertrauten Nachbarn hatten sich in den letzten Jahren in Altenheime verabschiedet oder zur ewigen Ruhe gelegt. Die Welt um Herrn Büllendal wurde kleiner, enger, leiser. Trauriger.
Am frühen Vormittag eines gewöhnlichen Großstadtdonnerstags ging Herr Büllendal ans Fenster seiner Eigentumswohnung im 5. Stock und sprang. Herr Büllendal war nicht tot. Er überlebte den Sturz schwerstverletzt. Initial kritisches A, kritisches B, kritisches C, kritisches D. Offenes Schädel-Hirn-Traum, einseitig instabiler Thorax, multiple Extremitätenverletzungen, instabile Beckenfraktur.
Reanimation durch 12-köpfiges Team
Thoraxdrainagenanlage beidseits und Intubation erfolgten durch den Notarzt vor Ort. Parallel wurde ein RTH alarmiert, der den Patienten übernahm und in unserem Schockraum übergab – unter Reanimationsbedingungen.
Innerklinisch wurde der Patient durch ein insgesamt 12-köpfiges Team aus Anästhesie, Unfall- und Neurochirurgie und Radiologie reanimiert. Rhythmus bei Aufnahme: Asystolie. Laufende Reanimation seit 15 Minuten.
Zwanzig Minuten nach Ankunft im Schockraum immer noch Asystolie. Weite, lichtstarre Pupillen. Und innerlich der leise Wunsch, Herr Büllendal möge es doch bitte geschafft haben. Nach zähen 30 Minuten, ZVK, Arterie, Sono, Massivtransfusion und viel notfallmedizinischem Gedöhns kommt vom Teamleader die Rückfrage an das Team, ob noch jemand eine Idee zur Rettung des Patienten habe.
Wir entschließen uns im Konsens zum Abbruch bei insgesamt infauster Gesamtkonstellation.
Erst später erfahren wir von den Suizidabsichten
Angefangen und fortgesetzt haben wir das ganze übrigens nur, weil er nach dem Sprung in der Hecke gelandet ist und bei Ankunft des Rettungsdienstes noch einen Kreislauf gehabt habe.
Freier Fall aus 15 m Höhe. Von dem möglicherweise suizidalen Hintergrund erfahren wir erst nach erneuter Rückfrage beim einliefernden Notarzt. Die Polizei habe in der Wohnung des Patienten einen Abschiedsbrief gefunden. Man sei sich aber zunächst nicht sicher gewesen, ob er nicht vielleicht doch nur ausgerutscht sein könnte, daher habe man behandelt. Man weiß ja nie.
Manchmal macht Notfallmedizin keinen Spaß. Manchmal tröstet noch nicht mal der Gedanke, es versucht zu haben. Manchmal fragt man sich aber auch, was wir da eigentlich machen. Oder gemacht haben. Verhältnismäßigkeit. Ressourcenplanung und so. Es bleibt kompliziert.