Manuela hat mir ihrem Mann gerade ein kleines Haus gekauft, er ist selbständig bei der Post, sie arbeitet im Supermarkt. Beide haben wenig Geld, viel Arbeit, wenig Zeit. Viel Trubel in der Vorweihnachtszeit, nach Weihnachten soll es aber endlich ruhiger werden.
Heute ist Weihnachtsfeier mit dem ganzen Team vom Supermarkt. Es gibt Schweinefilet in Champignon-Rahm-Sauce, Manuela nimmt das Hähnchenbrustfilet in Curry-Früchte-Sauce, Kartoffelgratin dazu und hintenher noch Rote Grütze mit Vanillesauce.
Ein kurzer Knall, da liegt Manuela auch schon auf dem Tisch. Kurzes Entsetzen im Saal. Eigentlich zu früh, um dem Alkohol die Schuld geben zu können – außerdem hatte Manuela doch nur eine Fanta ohne Eis. Manuela zuckte ein paar Mal: Auftritt Hans, betrieblicher Ersthelfer: Dicke Decke drunter, Kopf gepolstert, Möbel aus dem Weg, Hilferuf abgesetzt.
Auf zum Einsatzort
Einsatzmeldung: NA Intern Kühlheide 282, Landgasthof Schulze-Oeverding, Krampfanfall, SoSi Mehrfach.
Bei unserer Ankunft finden wir Manuela ansprechbar, adäquat und wach vor. Großes Lob an die Ersthelfer, alles richtig gemacht und das erlebt man ja auch selten. Manuela klagt über Übelkeit, der Großteil des Weihnachtsschmauses hat sich über ihr Pailletten-Top verteilt, die Situation ist ihr sichtlich unangenehm. In einem mit 100 Personen spärlich besetzten 400-Personen-Festsaal so etwas wie Privatsphäre zu kreieren, entpuppt sich als ein hoffnungloses Unterfangen.
Wir einigen uns auf das kleine Programm vor Ort – Beistand, guter Zuspruch, warme Decke, erste Anamnese – und warten auf den RTW, der auch kurz danach eintrifft.
Manuela hyperventiliert nun ein wenig, zu viel Aufregung, zu viele Augen, die sich das mal ganz genau anschauen müssen. Die Manuela, also nee. Völlig abgestürzt und das um kurz nach acht ... ts.
Manuela ist übel und sie hyperventiliert
Ich bin kurz wütend auf diese Freizeit-Moralapostel und konzentriere mich auf Manuela, spreche ihr gut zu: Es solle sie jetzt mal einen feuchten Sch** interessieren, was irgendwer über sie denkt. Und das meine ich auch so.
Manuela beklagt neben der Übelkeit jetzt auch, dass ihre Finger kribbeln würden, sie erhält eine Hyperventilationsmaske und wir reden ein bisschen miteinander, auch das beruhigt sie.
Ab auf die Trage, Abmarsch. „Ja, schönen Abend noch. Nein, wir lassen ihnen keine Drogen da für die Party, haha.“
Im RTW nochmal die Zusammenfassung und hier wird es etwas medizinisch. Kein A-Problem, B: Hyperventilation, kein C-problem, D: Blutzucker gut (140mg/dl), E: führendes Problem Übelkeit.
Was war passiert?
Laut der umstehenden Personen habe Manuela gezuckt. Am ganzen Körper. Eine differenziertere Anamnese ist nicht möglich, mit ein bisschen Glück hätte ich irgendwo vielleicht noch ein Video finden können, irgendwer filmt ja immer. Egal. Meine Überlegungen: Krampfanfall, fremdanamnestisch global, aber kein Zungenbiss, Pat. hat nicht eingenässt, trotz kurzer Anfahrtszeit kein postiktaler Dämmerzustand, kein Krampfleiden bekannt, keine klassischen Trigger (Schlafentzug, Lichtblitze etc.), Vomitus untypisch.
Lebensmittelvergiftung: dafür spricht das schwallartige Erbrechen, erklärt aber nicht den mutmaßlich stattgefundenen Krampfanfall.
Schlaganfall: überhaupt null Komma null neurologische Defizite, keine Risikoanamnese (Nichtraucherin), Pupillen gleichgroß (!) mittelweit, lichtreagibel.
Hirnblutung: Kopfschmerz wird zunächst verneint, im Verlauf mit 4 von 10 angegeben, Pat. sagt die Schmerzen seien im Hinterkopf lokalisiert, empfindet sie aber nicht als behandlungsbedürftig, außerdem wie gesagt mit identischer Pupillengröße, Pat. wach, voll orientiert, adäquat und ohne Defizite.
Erstmal was gegen die Übelkeit ...
Im RTW entscheide ich mich aufgrund der fortgesetzten Übelkeit und der Agitation für Dimenhydrinat. Ich gebe gerne eine halbe Ampulle langsam i.v. (unter EKG-Kontrolle, CAVE QT-Verlängerung und Rhythmusstörungen!), den Rest dann in die Infusion. Nimmt sehr zuverlässig die Übelkeit, macht müde und beruhigt darüber hinaus vielleicht auch ein bißchen – so zumindest mein Therapieansatz. Ich überlege etwas Midazolam zu titrieren, denn Sie beklagt als Hauptproblem diese Unruhe, Übelkeit und Angst, will aber erstmal die Wirkung des Dimenhydrinats abzuwarten. Wir fahren die Neurologie eines Maximalversorgers an, ca. 20 Minuten bodengebunden.
Auf dem Weg versuche ich mehrmals die Anamnese zu präzisieren. Was ist hier passiert? Mein Bauch sagt mir, dass irgendwas im Busch ist.
Manuela fallen nun langsam die Augen zu, klar, Dimenhydrinat ist da. Sie bleibt dabei jederzeit erweckbar, die Übelkeit scheint aber zu bleiben. Manuela muss nun erneut erbrechen und schafft es in Oberkörperhochlagerung so gerade eben die Brocken heraus zu befördern. Mir wird etwas übel. Ich bin heilfroh, dass ich nicht auch noch Midazolam gegeben habe, dann hätten wir hier ein richtiges Problem gehabt.
Die mitfahrende Rettungsassistentin erzählte mir von ihren Erfahrungen mit diesem Medikament und dass Sie davon ja zwei Tage geschlafen habe. Ja, ich habe das auch schon mal genommen und ja, es macht sehr müde, aber das hier war was anderes. Nochmal kurzer Check, Pupillen gleich groß, keine Defizite, nach wie vor lautet die Antwort auf meine Frage, was im Moment das Hauptproblem sei, dass es die die Übelkeit sei. Erst auf Nachfrage bejaht sie erneut leichte Kopfschmerzen, sie seien jetzt vorne im Kopf.
Mein Bauchgefühl sagt mir, da stimmt was nicht
Die wechselnde Wachheit und die präzise Kopfschmerzbeschreibung (wenn auch als sehr moderat und von ihr als nicht behandlungsbedürftig beschrieben!) sowie die fortgesetzte Übelkeit lässt meinen Bauch entscheiden, die Patientin für den Schockraum anzumelden. Anästhesie, Neurologie, Neurochirurgie.
Ich beiße mir auf die Unterlippe – ist das nicht etwas hoch gegriffen? Schockraum? Für eine Pat. mit einem GCS irgendwo zwischen 13 und 15?
Ich frage Patienten immer danach, was im Moment ihr Hauptproblem ist und ob ich gegen diese oder jene Befindlichkeitsstörung etwas machen soll. Tatsächlich ist es nämlich oft so, dass Patienten ein bestimmtes Symptom als gar nicht so schlimm empfinden. Und bevor ich mir neue Probleme ins Haus hole, lasse ich die Medikamente wo sie sind. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung.
Manuela blieb bei der Übelkeit, das Kribbeln in den Fingern war bei der Ankunft im Krankenhaus auch weg und ansonsten hatten wir bis auf den leichten Kopfschmerz und die wechselnde Wachheit – nichts.
Ich wurde von der Kollegin etwas komisch angeschaut und bin ganz ehrlich: ich hätte es genauso geguckt.
Hab ich vielleicht doch übertrieben?
In meinem Kopf lief nur vorher das Szenario wie folgt ab: Neurologe untersucht kurz, stellt die Indikation zum CCT, Pat. liegt dort flach, übergibt sich mit mittelguten Schutzreflexen, atmet ihr Curryhühnchen ein und wird reanimationspflichtig. Wir kennen das.
Ich machte also meine Übergabe im Schockraum und musste mir anhören „wieso man für sowas hier hin fährt, Magen-Darm können die in der Waldklinik auch“ (Neurologe), „Übelkeit kann man nicht rausoperieren“ (Neurochirurg) und „Ich habe auch mal Dimenhydrinat bekommen, davon habe ich zwei Tage geschlafen“ sagt die Anästhesie – äh ja, danke, das hatten wir schon.
Ich habe allen Beteiligten ganz ehrlich gesagt, dass auch mir durchaus bewusst ist, dass die sachliche Analyse der Lage keine wirkliche Dramatik erkennen lässt. Ich habe aber auch gesehen, wie die Patientin vor zehn Minuten versucht hat, ihre Bröckchen zu erbrechen und das war eben nicht mehr adäquat und auch nicht nur durch Dimenhydrinat zu erklären.
Die Patientin ging erstaunlicherweise ohne viele Diskussionen ins CCT, das Team versammelt sich dann aus Strahlenschutzgründen immer im Schaltraum, es wird wild durcheinander gequasselt und als die ersten Schichten auf dem Monitor aufliefen wurde es dann doch kurz still.
Wer hätte das gedacht?
Manuela hatte eine dicke Subarachnoidalblutung. Für einen kurzen Moment wanderten die ungläubigen Blicke zwischen dem Monitor und mir hin und her. Ich schäme mich dafür, dass ich für einen Moment den Triumph über die Genugtuung genoss, hier nicht übertrieben zu haben. Mein Bauch hatte Recht.
Ich fühlte mich trotzdem schlecht, denn es war die schlechtmöglichste Variante für die Patientin.
Mich hat der Einsatz in vielerlei Hinsicht nachdenklich und demütig gemacht. Ich bin froh, dass sich mein Bauch mittlerweile zu einem so guten Notfallmediziner gemausert hat und nicht so viel auf klassische Literaturbeschreibungen (aber die hatte keinen Vernichtungskopfschmerz!) gibt.
Ich versuche demütig zu bleiben, wenn ich das nächste Mal im Schockraum Patienten annehme, die ich als über-triagiert betrachte. Und ich will in Zukunft wachsam bleiben, auch wenn der Einsatz banal erscheint.
Manuela wurde aufgrund eines spontan geplatzten Aneurysmas durch die Neuroradiologen gecoilt. Sie hat es der absolut exzellenten Versorgung durch die Neuroradiologen zu verdanken, dass sie schon am nächsten Tag extubiert werden konnte und sich relativ rasch wieder wach, adäquat und ohne erkennbare neurologische Defizite zeigte. Nur die Erinnerung an die Weihnahtsfeier fehlt ihr komplett, aber das lässt sich nachholen.