Eine HIV-Infektion lässt sich mittlerweile gut behandeln. Dennoch leiden bis zu 50 Prozent der Patienten an neurologischen Störungen. Wissenschaftler haben nun ein körpereigenes Protein entdeckt, das die Ausbreitung der HI-Viren im Gehirn verlangsamen könnte.
HIV-infizierte Patienten, die rechtzeitig mit einer medikamentösen Therapie beginnen, haben mittlerweile eine nahezu normale Lebenserwartung. Doch bei vielen Betroffenen treten im Rahmen der lebenslangen Behandlung Komplikationen auf: Sie leiden an Gang- und Sprachstörungen, Lähmungen oder kognitiven Einschränkungen. Diese Symptome gehören zu einer Reihe von neurologischen Erkrankungen, die zusammenfassend als Neuro-Aids bezeichnet werden. Trotz wirksamer Medikamente gelingt es offenbar einigen Viren, die Blut-Hirnschranke zu überwinden. Sie infizieren Makrophagen und wandern mit deren Hilfe aus dem Blut ins Gehirn. Was dort geschieht, ist noch nicht im Detail geklärt, da das Gehirn von lebenden Patienten kaum für Untersuchungen auf molekularer Ebene zugänglich ist. Versuche mit Rhesusaffen haben jedoch ergeben, dass HIV-verwandte Virusstämme in der Lage sind, Gliazellen zu befallen und eine Entzündungsreaktion im Gehirn auszulösen, die letztlich zum Untergang von Nervenzellen führt. Ein Forscherteam der Universität Ulm hat nun ein körpereigenes antivirales Molekül entdeckt, das die Produktion infektiöser HI-Viren in Makrophagen hemmt. Wie die Wissenschaftler um Frank Kirchhoff in einem Artikel [Paywall] in der Fachzeitschrift Cell Host & Microbe berichten, könnte GBP5 eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Neuro-Aids spielen. GBP5 gehört zu einer Gruppe von Enzymen, deren Produktion durch Interferone angeregt wird, und die die zelleigene Abwehr gegen eine Vielzahl pathogener Erreger verstärken. Kirchhoff und sein Team kamen dem Molekül auf die Spur, als sie das menschliche Erbgut nach Genen durchsuchten, die die Bauanleitung für antivirale Proteine tragen. Die Forscher identifizierten zunächst 30 Kandidaten. Zwar konnten einige dieser Moleküle in einem Modellsystem die Vermehrung von HI-Viren hemmen, doch nur GBP5 war in der Lage, die Herstellung infektiöser HI-Viren in Makrophagen einzudämmen. „Die Immunzellen stellen zwar in Anwesenheit von GBP5 noch genauso viele Viruspartikel her, diese haben aber die Fähigkeit verloren, andere Zellen zu infizieren“, erklärt Kirchhoff, Leiter des Instituts für Molekulare Virologie an der Universität Ulm.
In weiteren Experimenten konnten er und seine Mitarbeiter zeigen, dass die Produktion von GBP5 in Makrophagen sowohl durch Interferone als auch durch eine Infektion mit dem HI-Virus angekurbelt wird. Die Wirkung von GBP5 scheint besonders davon abzuhängen, wie häufig dieses Protein in den Makrophagen vor der Infektion vorkommt. Als die Forscher sich Makrophagen von 19 gesunden Menschen genauer anschauten, stellten sie fest, dass sich die GBP5-Konzentration in diesen Immunzellen um bis zu 1000fach unterschied, je nachdem, von welchem Spender die Blutprobe stammte. „Als wir die verschiedenen Makrophagen mit HIV infizierten, produzierten diejenigen am wenigsten infektiöse Viruspartikel, die anfangs am meisten GBP5 enthielten“, berichtet Kirchhoff. Um sicherzustellen, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen GBP5 und der Anzahl der infektiösen Viruspartikel besteht, verringerte das Team um Kirchhoff mit gentechnischen Methoden die Menge an GBP5 in den infizierten Makrophagen. Sofort stieg in den derart behandelten Immunzellen die Anzahl der infektiösen Viruspartikel an. „Wenn wir die GBP5-Menge in den Makrophagen um das Fünffache reduzieren, geht die Infektiosität zirka ums Zehnfache hoch“, sagt Kirchhoff. „GBP5 beeinträchtigt den Einbau und die Funktion des viralen Hüllproteins, das essenziell für die Infektion menschlicher Zellen und damit für die Ausbreitung des HI-Virus ist.“ Viruspartikel, die in Gegenwart von GBP5 produziert würden, so der Forscher, hätten deutlich weniger funktionelles Hüllprotein und könnten deshalb kaum noch mit ihren Zielzellen fusionieren.
Doch die HI-Viren sind dem Angriff durch GBP5 nicht wehrlos ausgeliefert. Durch eine gezielte Mutation in einer bestimmten Gensequenz, die auch die Bauanleitung für das virale Hüllprotein enthält, können die Viren dessen Produktion erhöhen. Wenn man Gewebeproben von HIV-infizierten Patienten analysiert, taucht diese Art von Mutation hauptsächlich bei Proben aus dem Gehirn auf. „HIV-Varianten im Gehirn besitzen anscheinend besonders häufig eine Mutation, die die Sensitivität gegenüber GBP5 verringert“, so Kirchhoff. Noch wissen er und sein Team nicht, warum die GBP5-Konzentration in Makrophagen so starken Schwankungen unterliegt. Diese Frage untersuchen die Forscher momentan, genauso wie die Frage, auf welche Weise GBP5 die Funktion des viralen Hüllproteins einschränkt. Ein weiteres Ziel der Ulmer Forscher ist es, Substanzen zu finden, die spezifisch die Produktion von GBP5 erhöhen und eines Tages zur Therapie von Neuro-Aids eingesetzt werden könnten. „Die breit wirkenden Interferone eignen sich nicht wirklich dafür, da sie starke Nebenwirkungen haben“, sagt Kirchhoff. Für andere Experten befindet sich die Entwicklung von Botenstoffen, die spezifisch die Konzentration von körpereigenen antiviralen Proteinen wie GBP5 im Gehirn erhöhen, noch in einem sehr frühen Stadium: „Die Forscher um Kirchhoff haben die Effekte von GBP5 auf die Infektiosität der Viren nur im Reagenzglas untersucht und nicht geschaut, ob sie auch im zentralen Nervensystem von HIV-Patienten auftreten“, sagt Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen. „Auch wenn die Ergebnisse sehr interessant sind, ist ihre Relevanz für Neuro-Aids bislang rein hypothetisch.“ Neben den bisherigen antiretroviralen Medikamenten setzt Überla zusätzlich auf den Einsatz von monoklonalen Antikörpern, die nicht nur die Virusvermehrung stoppen, sondern auch die Zerstörung der virusproduzierenden Immunzellen veranlassen könnten. In einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie [Paywall] haben Forscher erstmals die Verträglichkeit und Wirksamkeit eines solchen Antikörpers bei HIV-Patienten gezeigt.
Neben effizienteren Medikamenten könnte aber auch eine verbesserte Diagnostik die Zahl der an Neuro-Aids leidenden HIV-Patienten senken. Normalerweise wird nur nach der Viruslast im Blut geschaut, um die Wirksamkeit einer bestehenden Therapie zu messen. Gabriele Arendt, Leiterin der Neuro-Aids-Ambulanz an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, hält das für einen Fehler: „Auch wenn im Blut keine Viren vorhanden sind, heißt das noch lange nicht, dass im zentralen Nervensystem die Situation die gleiche ist.“ Deshalb, so Arendt, müssten sich alle eigentlich gut eingestellten HIV-Patienten im Abstand von ein bis zwei Jahren einem neurophysiologischen Test unterziehen. Sind deutliche kognitive Defizite und im Liquor HI-Viren nachweisbar, muss die Medikation umgestellt beziehungsweise erweitert werden. In dieser Situation können CCR5-Antagonisten hilfreich sein. Diese Medikamente blockieren den auf den Zielzellen sitzenden CCR5-Korezeptor, so dass sich das virale Hüllprotein nicht mehr daran anlagern kann und der Eintritt der Viren in die Zellen verhindert wird. Eine Modifikation der HIV-Therapie ist auf jeden Fall sinnvoll, denn in rund 50 Prozent der Fälle lassen sich die kognitiven Einschränkungen zumindest vorübergehend auf dem bestehenden Niveau stabilisieren, in etwa 25 Prozent der Fälle kommt es zu Verbesserungen, etwa 25 Prozent sind nicht beeinflussbar.