Unterdosierte Krebsmittel aus Bottrop, verunreinigte Blutdrucksenker aus China und gestohlene Chemotherapien aus Griechenland: In Deutschland folgt in Sachen Arzneimittelsicherheit Skandal auf Skandal. Was muss sich ändern, fragen wir den AOK-Vorstandsvorsitzenden Martin Litsch.
Wie lassen sich derartige Fälle für die Zukunft vermeiden – und welche Gesetze müssen geändert werden, damit Patienten tatsächlich Schadensersatz bekommen können? Diese Fragen stellten wir Martin Litsch: Er ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, dem Dachverband der elf regionalen Allgemeinen Ortskrankenkassen mit ihren mehr als 25 Millionen Versicherten. Wir sprachen mit ihm darüber, ob die Aufsicht über Arzneimittel in Deutschland zentralisiert werden sollte, da mehrfach die Länderaufsicht versagt hat, und über Schadensersatzregeln und den Import von Arzneimitteln.
Martin Litsch wurde 1957 geboren. Er stammt aus Trier und studierte dort Soziologie und Ökonomie. Danach arbeitete er unter anderem bei der Caritas und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier. Seit 1989 arbeitet Litsch für die AOK.
MedWatch: Herr Litsch, würde es helfen, die Zuständigkeit in der Umsetzung und Kontrolle der Arzneimittelsicherheit zu bündeln? Bisher ist die Aufgabe den Landesbehörden überlassen, die oft unterbesetzt sind oder sich nicht zuständig fühlen.
Martin Litsch: Auch eine Bundesbehörde ist nicht automatisch gut organisiert. Aber die Zuständigkeiten aller Beteiligten müssen natürlich eindeutig geklärt sein und eine Unterbesetzung bei der Überwachung ist nicht akzeptabel. Wenn es da Defizite gibt, muss das dringend geändert werden.
Im Arzneimittelbereich agieren Landesbehörden durchaus ungenügend: Der Richter im Prozess um unterdosierte Krebsmittel in Bottrop sprach von „Behördenversagen“, in Brandenburg ist gerade die Gesundheitsministerin wegen des Lunapharm-Skandals zurückgetreten. Sie musste große Fehler in ihrem Haus einräumen. Braucht es nicht doch ein bundeseinheitliches, koordiniertes Vorgehen und bundesweite Zuständigkeiten?
In Ihrer Aussage schwingt mit, dass es die Defizite nicht mehr gibt, wenn wir die Kontrolle in die Hände einer Bundesbehörde legen. Das ist eine gewagte Hypothese. Ich glaube, das Problem ist nicht nur dadurch gelöst, dass man Aufgaben von der Landes- auf die Bundesebene überträgt. Wir brauchen zusätzlich auch eindeutige Regeln für den Informationsaustausch. Informationen zu den Ergebnissen der Überwachung sollten nicht nur in den einzelnen Ländern vorliegen, gegebenenfalls wäre eine gemeinsame Datenbank sinnvoll.
Oft fühlt sich aber niemand zuständig – besonders problematisch ist es bei ausländischen Herstellern von Arzneimitteln. Im Fall des Blutdrucksenkers Valsartan musste jede Landesbehörde einzeln die Rückrufe bekannt geben, deren Hersteller seinen deutschen Sitz im jeweiligen Bundesland hat. Minister Spahn hat gerade angedeutet, dass er dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mehr Kompetenzen geben möchte.
Bei Arzneimittelsicherheitsfragen sind strenge Kontrollen angebracht.
Welche Verantwortung tragen Krankenkassen wie die AOKs hierbei?
Die Krankenkassen sind keine Kontrollbehörden. Wir versuchen über vertragliche Vorgaben die Qualität und die Produktion von wertigen Arzneimitteln zu sichern, zum Beispiel bei den Rabattverträgen. Aber wir haben keine Kontrollmöglichkeiten und das ist auch nicht unsere Aufgabe. Wir können Teil daran haben, indem wir Dinge aufdecken – aber das zu kontrollieren und die Sicherheit herzustellen, ist eine staatliche Aufgabe und keine der Beitragszahler.
Was muss sich verändern, um Verunreinigungen wie bei Valsartan zu verhindern?
Wenn wir in globalen Maßstäben die in Europa geltenden Qualitätsstandards gewährleisten wollen, setzt das voraus, dass auch in anderen Ländern bestimmte Mechanismen wirken. Wir müssen dafür sorgen, dass etwa in Indien nach genau den gleichen Vorgaben produziert wird wie hierzulande. Dazu braucht es auch internationale Abkommen, dass diese Vorgaben tatsächlich kontrolliert werden. Ich glaube nicht, dass man die Entwicklung zurückdrehen kann und global agierende Pharmaunternehmen ihre Produktion wieder ganz nach Europa verlagern. Die oft kritisierten Rabattverträge sind jedenfalls nicht die Bösen. Sie schaffen Planbarkeit für die Hersteller und erhöhen die Compliance bei den Patienten. Und sie können auch nicht die Defizite kompensieren, die durch Produktionsfehler in Kombination mit mangelhafter Aufsicht entstehen.
Bei Valsartan war es aber offenbar so, dass nicht nur der chinesische Hersteller die Probleme übersehen hat, sondern auch die europäische Aufsichtsbehörde. Was muss da getan werden?
Das ist natürlich nicht akzeptabel, die Aufsichtsbehörden müssen ihrer wichtigen Aufgabe zum Schutz der Patientinnen und Patienten nachkommen.
Was ist im Fall Valsartan die Verantwortung der AOKs? Werden Sie jeden einzelnen betroffenen Patienten ausfindig machen und aufklären?
Das ist ein heikler Punkt, gerade mit der Aufklärung der möglicherweise betroffenen Patienten. Ich würde mir wünschen, dass wir das so einfach könnten. Aber wir können nicht einfach in die Abrechnungsdaten gucken und daraus dann schließen, dass Patient X Valsartan bekommt. Wir dürfen unsere patientenbezogenen Daten nicht für andere Zwecke nutzen, als für jene, für die wir sie erhoben haben. Das ist nun einmal leider nur die Abrechnung und bestenfalls anonymisierte Analysen zur Verordnungstätigkeit. Für die direkte Information einzelner Versicherter fehlt die Rechtsgrundlage.
Aber Sie können doch alle Versicherte informieren, oder?
Ja, generell schon, aber eben nicht im Einzelfall. Die AOKs haben das auf verschiedenen Kanälen unterschiedlich umgesetzt. Informiert wurde über den Internetauftritt oder über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Servicetelefons, wenn es Anfragen von Versicherten gab. Wichtig war in diesem Fall aber auch, dass Patienten ihr Arzneimittel nicht einfach ohne ärztlichen Rat absetzen.
Anfang Juli gab es ja viele Rückrufe einzelner Mittel – allerdings sollten nur Apotheken die Mittel zurückschicken, Patienten die vorhandenen Tabletten hingegen erstmal weiter nehmen. Hätte nicht alles gleich vom Markt gemusst – und wie kommuniziert man das am besten?
Natürlich wäre die direkte Kommunikation mit den betroffenen Versicherten das Beste. Aber das dürfen die Kassen eben nicht. Die Kommunikation zu Arzneimittelrückrufen wird von den Zulassungsbehörden bestimmt, die über die detaillierten Sachinformationen in den jeweiligen Fällen verfügen und auf dieser Basis die Schritte veranlassen. Auch uns ist daran gelegen, dass die Patienten möglichst zügig vor Schäden durch solche Präparate geschützt werden. Aber es muss auch vermieden werden, dass Patienten durch eigenmächtiges Absetzen von Arzneimitteln Schäden erleiden.
Wer bekommt dann sein Geld zurück?
Diese Frage ist noch nicht geklärt. Die Kassen jedenfalls haben keinen Rechtsanspruch gegenüber dem Hersteller. Das ist rechtlich nicht geregelt. Wir müssten jeden Einzelfall dokumentieren und nachweisen, dass der Patient von den 100 Tabletten drei genommen hat und 97 nicht, dass er die 97 zurückgegeben hat, und der Apotheker diese an den Hersteller zurückgeschickt hat und der Apotheker dafür ein paar Euro bekommen hat usw… Das wäre unglaublich aufwendig. Sinnvoll aus Sicht der Kassen wäre natürlich ein genereller Haftungsanspruch gegen den Hersteller, der uns die Kosten für seine verunreinigten Mittel zurückerstattet, die wir ausgegeben haben.
Eigentlich muss es aber doch eine Art Schadensersatz geben?
So eindeutig wird sich der Zusammenhang zwischen der Einnahme von Valsartan und einer Krebserkrankung vermutlich leider nicht herstellen lassen. Nach heutiger Rechtslage muss der Patient den Beweis führen, dass er kausal durch die Einnahme von Valsartan an Krebs erkrankt ist. Wie wollen Sie das denn nachweisen? Die Tabletten sind doch längst verstoffwechselt. Es gibt vielleicht sogenannte Rückstellmuster, aber dennoch müsste jeder einzelne Patient beweisen, dass er nur aufgrund der Einnahme von Valsartan Krebs bekommen hat. Diesen Nachweis kann er nicht führen. Die Gegenseite würde argumentieren, dass es Millionen von Menschen gibt, die an Krebs erkranken, ohne jemals Valsartan genommen zu haben. Vielleicht rauchen Sie ja nebenbei oder waren viel in schlechter Luft unterwegs. Nachzuweisen, dass die Erkrankung durch ein verunreinigtes Valsartan-Präparat ausgelöst wurde, ist unglaublich schwierig.
In den USA gäbe es eine Sammelklage, und der Hersteller würde sich wahrscheinlich verpflichten, jedem Patienten eine angemessene Summe Schadensersatz zu zahlen.
Wir haben es hier mit ganz unterschiedlichen Rechtssystemen und einem anderen Rechtsverständnis zu tun. Die von amerikanischen Gerichten zugesprochenen hohen Schadensersatzsummen sollen die Schädiger zugleich bestrafen. In Deutschland sehen so etwas weder das Patientenrechtegesetz noch das Arzneimittelgesetz vor. Ob man das allerdings genauso importieren sollte, steht nochmal auf einem anderen Blatt. Wir müssen aber Rechtsgrundlagen in Deutschland schaffen, die es Patienten ermöglichen, im Falle von Arzneimittelschäden überhaupt Schadensersatzansprüche durchsetzen zu können. Hierzu bedarf es einer Änderung des Arzneimittelgesetzes.
Sie möchten mehr mit den Rezeptdaten tun können?
Ja, und ich denke, dass das auch kommen wird. Und zwar, weil die Patienten es wollen und wir hoffentlich bald technologisch in der Lage sind, ihnen gewisse Services zu ermöglichen. So könnten Patienten ihrer Kasse beispielsweise erlauben, Arzneimittelsicherheits-Checks mit den Arzneimitteln zu machen, die in ihrer Patientenakte stehen. Die Basis dafür sind die Daten des Patienten, die auch weiterhin nur ihm gehören.
Was könnte sich ändern, damit etwa in Sachen Valsartan die Generikahersteller mehr Eigeninteresse an Kontrollen haben als bisher – oder dass Behörden haften?
Das Kontrollsystem wird jetzt hoffentlich nochmal auf den Prüfstand gestellt. Wir brauchen klare Regeln, vor allem aber brauchen wir umsetzungsstarke Institutionen. Und modifizierte Schadensersatzregelungen, die es insbesondere Patienten, aber auch Krankenkassen ermöglichen, Ansprüche durchzusetzen. Heute fehlt uns der Rechtsanspruch auf Schadensersatz, wir können es gar nicht reklamieren. Nach meinem Verständnis haben unsere Versicherten jedoch nicht für das Fehlverhalten einzelner Arzneimittelhersteller einzustehen.
An welche Art von Schadensersatzansprüchen denken Sie dabei? Wollen Sie nur die Kosten von fehlerhaften Mitteln zurückerstattet haben – oder auch darüber hinaus gehende Schäden?
Ersteres sowieso. Darüber hinaus sollten aber auch die zurechenbaren Folgekosten von gesundheitlichen Schäden, die durch ein Arzneimittel ausgelöst werden, vom Verursacher erstattet werden müssen.
Haben Sie da schon Vorschläge?
Zum einen müssen wir praxistaugliche Rechtsgrundlagen für die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen bei Arzneimittelschäden für betroffene Patienten und die Krankenkassen, die das Geld ihrer Beitragszahler verwalten, schaffen. Hier bietet sich das Arzneimittelgesetz an. In diesem Zusammenhang sollten aber auch die Möglichkeiten der Unterstützung betroffener Versicherten auf den Prüfstand. Wir erkennen aus den Rückmeldungen unserer Versicherten, dass diese sich wünschen, zum Beispiel bei Produktrückrufen durch ihre Krankenkasse informiert zu werden. Das kriminelle Handeln Einzelner führt dazu, dass immer mehr Kontrollmechanismen und unabhängige, sprich interessensneutrale Prüfinstanzen aufgebaut werden. Ganz werden sich Schlupflöcher aber nie vermeiden lassen.
Aufgrund der so genannten Importquote müssen deutsche Apotheken einen Teil ihrer Arzneimittel aus dem Ausland beziehen. Kritiker sagen, dass so auch Fälschungen nach Deutschland kommen. Sollte die Importquote fallen?
Ganz ehrlich, ich brauche sie nicht. Finanziell geht es hier um ca. 120 Millionen Euro. Bei allem Respekt vor dieser Summe, aber bei 40 Milliarden Euro Ausgaben für Arzneimittel ist das zu wenig, um die Sicherheitsrisiken damit in Kauf zu nehmen. Und außerdem ist der ganze Mechanismus ja auch zweifelhaft. Die Arzneimittel werden irgendwo eingekauft und sie müssen dann 15 Prozent oder 15 Euro billiger sein als die Nicht-Importarzneimittel. Wenn ein Arzneimittel z.B. 1000 Euro kostet und es 15 Euro billiger verkauft wird, ist dies für die Krankenkassen kein überzeugendes Geschäftsmodell.
(Interview: Nicola Kuhrt und Hinnerk Feldwisch-Drentrup.; Foto: AOK Bundesverband)
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