Die Review der Cochrane Collaboration zu HPV-Vakzinen habe mehrere Studien nicht berücksichtigt, kritisiert ein Mitbegründer – der jetzt gehen musste. Fehler wurden von der Cochrane Community zwar eingeräumt, das Ergebnis aber nicht infrage gestellt. Was ist genau passiert?
Derzeit erschüttert ein Streit zwischen Wissenschaftlern die einflussreiche Cochrane Collaboration. Ihre Analysen gelten als tragende Säulen der evidenzbasierten Medizin. Stein des Anstoßes war eine bereits im Mai veröffentlichte Review zur Wirksamkeit und Sicherheit von HPV-Impfungen als Schutz vor Zervix-Karzinomen. Peter C. Gøtzsche, ehemaliger Direktor des Nordic Cochrane Centre, kritisierte die Veröffentlichung scharf und musste kurz darauf seinen Sessel räumen. Worum geht es wirklich?
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Gøtzsche und Kollegen sehen mehrere Schwachstellen bei der Übersichtsarbeit. In BMJ Evidence-Based Medicine schreiben sie dazu:
Kurz nachdem Gøtzsche aus der Vereinigung ausgeschlossen wurde, folgte ein offener Brief. Darin führt er seinen Rauswurf auf den kritischen Artikel zurück. Er spricht nicht nur von fehlender Ethik, fehlender Moral, autoritären Strukturen und „demokratischen Defiziten“ bei der Cochrane Collaboration. Vielmehr sieht er beim Thema Interessenkonflikte „großen Widerstand“ und „viel Verzögerung“. Gøtzsche: „Vor einem Jahr habe ich empfohlen, dass es keine Autoren bei Cochrane Reviews geben sollte, die finanzielle Interessenkonflikte mit Unternehmen in Zusammenhang mit berücksichtigten Produkten haben. Dieser Vorschlag wurde von anderen Mitgliedern des Vorstands unterstützt, aber der Vorschlag wurde nicht angenommen.“ In den letzten Jahren habe sich Cochrane mehr und mehr zu einem „gewinnorientierten Unternehmen“ entwickelt.
Beim Thema Interessenkonflikte sollte auch Gøtzsche unter die Lupe genommen werden. Jenseits evidenzbasierter Reviews sagt er, die Pharmaindustrie sei „schlimmer als die Mafia“. Sein Buch „Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen“ folgt einem ähnlichen Tenor. Mammographie-Screenings bewertet er als wirkungslos, um fortgeschrittene Tumoren zu finden. Ein Artikel zu diesem Thema, der im European Journal of Cancer erscheinen sollte, wurde ohne Angabe von Gründen zurückgezogen, später dann aber im eher unbedeutenden Danish Medical Bulletin veröffentlicht. Auch zum Brustkrebs-Screening erschien ein Buch für Laien („Mammography Screening: Truth, Lies and Controversy“). Damit lässt sich bei Gøtzsche eine gewisse Voreingenommenheit nicht ausschließen.
Sein Angriff auf die Cochrane Collaboration blieb nicht ohne wissenschaftliche Erwiderung. David Tovey, Editor in Chief, und Karla Soares-Weiser, Deputy Editor in Chief, reagierten mit einer 30-seitigen Stellungnahme. Sie schreiben, es stimme nicht, dass „fast die Hälfte der förderfähigen Studien“ fehle. Im Rechercheprotokoll legen sie dar, 26 Studien (73.428 Probandinnen) hätten die Einschlusskriterien erfüllt. Sie geben jedoch zu, fünf abgeschlossene Studien (5.267 Probandinnen) seien übersehen worden. Dies liege am Rechercheverfahren mit Literaturdatenbanken statt mit Studienregistern. Allerdings, so Tovey und Soares-Weiser, gebe es durch die Daten „wenig oder gar keinen Unterschied zu den Ergebnissen der Review“. Dies belegen sie durch eine weitere Auswertung im Anhang ihres Schreibens. Alle Ergebnisse, etwa zur Mortalität oder zu Nebenwirkungen, seien transparent dargelegt worden. Mögliche Interessenkonflikte entsprächen ebenfalls den Vorgaben der Cochrane Collaboration. Insgesamt sei die von Gøtzsche in BMJ Evidence-Based Medicine geäußerte Kritik „deutlich übertrieben“. Ihre Review ziehen sie nicht zurück.
Über den aktuellen Streit hinaus zeigt die Debatte, mit welchen Schwächen die evidenzbasierte Medizin zu kämpfen hat. Das gilt nicht nur für Cochrane Reviews, sondern auch für Leitlinien. Forscher können nur Studien analysieren, die publiziert worden sind, anfangs wohl meist herstellerfinanzierte Arbeiten. Später kommen Papers aus dem akademisch-medizinischen Umfeld dazu. Dass Autoren selbst auf der Gehaltsliste von Firmen stehen, ist ein weltweit ungelöstes Problem, auch beim Leitlinienprozess. Schon lange fordern Verbände wie MEZIS, Personen mit Interessenkonflikten komplett auszuschließen.
Vielleicht hat Gøtzsche die wissenschaftliche Community ja wachgerüttelt. „Wir glauben, dass der Artikel [also Gøtzsches Kritik, Anm. d. Red.] eine gesunde Debatte hervorruft und wichtige Fragen aufwirft, wie sichergestellt werden kann, dass alle verfügbaren Beweise in systematische Übersichten aufgenommen werden, um Entscheider im Gesundheitswesen angemessen zu informieren“, fasst Carl Heneghan aus Oxford zusammen.