Nicht nur Eingriffe oder Pharmaka beeinflussen unsere Genesung. Bauwerke spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Langsam nähern sich Ärzte, Architekten und Gehirnforscher evidenzbasierten Konzepten der „Healing Architecture“. Es gibt aber noch viel zu tun.
„Raumschiff Strahleweiß“, „Eidotterparadies“ oder „Zahn-Lounge“: So manche Metapher muss daran glauben, wenn es um die Berliner Zahnarztpraxis KU64 geht. Ihr Interieur erinnert auf den ersten Blick an vieles – außer an Zahnmedizin. Angstpatienten atmen auf - ein gelungenes Beispiel der „Healing Architecture“. Während es zu krankmachenden Räumlichkeiten, bekannt als „Sick-Building-Syndrom“, etliche Veröffentlichungen gibt, betreten Wissenschaftler beim Gegenteil immer noch Neuland. „Healing Architecture“, heilende Architektur, soll Genesungsvorgänge beschleunigen. Die dänische Architektin Anne Kathrine Frandsen spricht von einem „als unterstützenden Faktor im menschlichen Heilungsprozess“. Zahnarztpraxis Ku64 in Berlin © Instagram
Professor Christine Nickl-Weller von der Technischen Universität Berlin hat sich ebenfalls des Themas angenommen. „Healing Architecture geht der Ausgangsthese nach, dass die räumliche Qualität, geprägt durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren wie zum Beispiel Licht, Farbe, Geräusch, Geruch und Orientierung, den Menschen sowohl psychisch als auch physisch beeinflusst“, beschreibt die Forscherin ihr Thema. Zur Untersuchung arbeitet sie interdisziplinär mit Neurowissenschaftlern, speziell Psychobiologen, mit Neurobiologen, Kognitionswissenschaftler, Architekten und Ingenieuren zusammen. Ihr geht es, wie aus der Medizin hinlänglich bekannt, um evidenzbasierte Methoden. Das Evidence-Based Design (EBD) untersucht auf Basis messbarer Effekte, welche physischen oder psychischen Effekte Räumlichkeiten auf Menschen in unterschiedlichen Situationen haben.
Bislang existieren nur wenige Veröffentlichungen. Im Jahr 1984 wagte sich Roger Ulrich, ein Architekturprofessor aus Texas, in fremdes Terrain. Er verglich zwei Patientengruppen, an denen Ärzte zuvor identische OPs ausgeführt hatten. Ein Teil lag in Krankenzimmern mit Blick auf den Park, während andere Patienten lediglich die Betonmauer eines benachbarten Gebäudes zu Gesicht bekamen. „Der Blick durch ein Fenster kann die Regeneration nach einem chirurgischen Eingriff beeinflussen", fasste Ulrich seine Ergebnisse zusammen. Wer die Natur vor Augen hatte, benötigte weniger Analgetika, litt seltener an Depressionen und konnte das Klinikum auch etwas schneller verlassen. Fast 35 Jahre später veröffentlichte Roger Ulrich eine Literaturarbeit. Darin zeigte er, dass sich Komplikationen wie erworbene Infektionen durch moderne Bauten minimieren lassen. Langsam kommt Bewegung in die Sache.
Im Rahmen des Projekts „Parametrische (T)Raumgestaltung“ erforschen Intensivmediziner, Psychologen, Schlafforscher, Architekten und Mediengestalter, welchen Effekt die Raumatmosphäre auf den Heilverlauf von Intensivpatienten hat. Dafür wurden an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zwei Zimmer mit vier Betten so umgestaltet, dass sie ein Höchstmaß an Privatsphäre für Patienten und deren Angehörige bieten. Medizinische Geräte befinden sich dezent im Hintergrund, und Alarmgeräusche werden gedämpft. Das spart rund 20 Dezibel im Vergleich zu Intensivtstionen normaler Bauweise. Durch Dauerlicht und durch hohen Lärmpegel kam es oft zu Schlafstörungen. Jetzt orientiert sich die gesamte Umgebung stark an individuellen Bedürfnissen von Patienten. Beispielsweise lassen sich Lichtdecken so steuern, dass sie den natürliche Schlaf-Wach-Rhythmus unterstützen und sogar Delirien reduziert werden. Mit der Darstellung visueller Inhalte über die Lichtdecke entsteht eine Atmosphäre, die Stress und Ängste mindern soll. Schon heute ist klar: Patienten, die auf der neuen Station liegen, erholen sich besser und brauchen im Durchschnitt weniger Analgetika oder Sedativa. Planer sehen im Modellprojekt schon heute die „Intensivstation der Zukunft“. © Charité
Ähnliche Visionen hatte Maggie Keswick Jencks (1941 bis 1995) für Krebspatienten, bis sie selbst an den Folgen eines Mammakarzinoms starb. Ihr Mann Charles Jencks verfolgte das Projekt nach Maggies Tod weiter. Zusammen mit international renommierten Architekten entstanden Maggie’s Centres in Großbritannien und in Hongkong als Anlaufstelle für Tumorpatienten. Sie sind in der Nähe von National Health Service-Kliniken angesiedelt und bieten mehr als onkologische Hilfe. Patienten sollen sich wohlfühlen, sie werden beraten und unterstützt. Hier kommt wieder die Architektur zum Tragen: Alle Gebäude bestehen aus kleinen Einheiten, die eher Wohnhäusern als Patientenzimmern gleichen. Es gibt Aufenthaltsbereiche für die Familie und Kochnischen im Zimmer. Martialische Hallen, einen zentralen Empfang oder Wegweiser an der Wand sucht man vergebens. Schließlich sollen sich Patienten wie zu Hause fühlen, nicht wie in einem Krankenhaus. Maggies Traum, das Leiden nicht nur medizinisch zu lindern, hat sich erfüllt. Maggie's Centres in Aberdeen © Bill Harrison
Nicht nur „Maggie’s Centres“ wachsen weiter. Auch in Deutschland tut sich was. Aktuellstes Beispiel ist eine Kinderklinik, die in Freiburg entstehen soll. Dafür stehen schon heute maßgeschneiderte Raumkonzepte fest:
Es bleibt spannend: Bis zum Sommer 2016 sollen alle Planungsunterlagen fertiggestellt werden. Mit dem ersten Spatenstich rechnet die „Initiative für unsere Kinder- und Jugendklinik Freiburg“ bereits in 2017.