Weil er seine Umwelt seit zwei Tagen rötlich verfärbt sieht, sucht ein 31-Jähriger eine Augenklinik auf. Der Mann erinnert sich, dass die Symptome begannen, nachdem er eine größere Menge flüssigen Sildenafil-Citrats (Rohstoff des Potenzmittels „Viagra“) zu sich genommen hatte.
Die genaue Dosis wisse er nicht. Die beiliegende Pipette habe er nicht verwendet, sondern das Potenzmittel direkt aus der Flasche getrunken. Kurze Zeit später sei ihm erstmals der Rotstich aufgefallen, zunächst einhergehend mit bunten Photopsien.
Der Augenarzt führt mit dem Patienten zahlreiche Tests durch. Seine Sehschärfe ist ungemindert, sein Augeninnendruck normwertig. Untersuchungen des vorderen Augensegments, der Gefäßversorgung und des N. opticus bleiben ohne pathologischen Befund. Erst die Ergebnisse des Elektroretinogramms (ERG) und der optischen Kohärenztomographie (OCT) geben schließlich Hinweise auf den Ursprung der Symptome. Die Zapfen der Netzhaut des Mannes scheinen Schaden genommen zu haben, speziell im Bereich der Macula lutea. Die Stäbchen hingegen zeigen im ERG normwertige Ausschläge.
Für immer und immer?
Der Mann beginnt daraufhin mit einer topischen Kortisontherapie und Augentropfen zur Reduktion des Augeninnendrucks. Weil die Besserung ausbleibt, erhält der Patient am Folgetag für einige Tage oral Kortison. Doch auch dies kann den Rotstich in seiner Wahrnehmung nicht mindern. Bis heute, ein Jahr später, hat sich die Sehstörung nicht gebessert. In weiteren Untersuchungen bestätigte sich vielmehr der Verlust der Zapfen in verschiedenen Bereichen der Netzhaut.
In der Literatur wurden Sehstörungen als Nebenwirkung von Sildenafil bereits zahlreich beschrieben. Grund dafür ist vermutlich, dass der PDE-5-Hemmer auch die in Photorezeptoren vorkommende PDE-6 inhibiert. Typischerweise sind diese Sehstörungen jedoch transient und innerhalb von 24 Stunden rückläufig. In ihrem Bericht betonen die Ärzte, dass sowohl die Intensität der Nebenwirkung als auch deren Dauer stark mit der eingenommenen Dosis korreliert. Sie mahnen zu einer besseren Patientenaufklärung über die Risiken dieses geläufigen Medikaments – auch bezüglich seiner Photorezeptor-Toxizität.
Quelle:
SILDENAFIL CITRATE INDUCEDRETINAL TOXICITY—ELECTRORETINOGRAM, OPTICALCOHERENCE TOMOGRAPHY, ANDADAPTIVE OPTICS FINDINGS; F. Yanoga et al., NCBI, doi: 10.1097/ICB.0000000000000708
Artikel von Maren Böcker